Das KuratorInnenenteam setzt bei der Programmgestaltung von brut gezielt auf die thematische Bündelung der einzelnen Programmpositionen.
Die Themenschwerpunkte werden aus den Inhalten generiert, die lokale KünstlerInnen mit ihren Produktionen an brut herantragen. Die Themen der brutproduktionen werden aufgegriffen und im Spielplan so präsentiert, dass sie im Kontext aktueller internationaler Positionen im Programm stehen und dadurch auch international sichtbar werden.
Zugleich wird durch die Einbeziehung überregionaler und internationaler künstlerischer Projekte für die Szene in Österreich ein künstlerischer Austausch provoziert, der einen lebendigen Diskurs über aktuelle ästhetische und inhaltliche Tendenzen und Entwicklungen in der Darstellenden Kunst ermöglicht.
brut ermöglicht durch die inhaltliche Bündelung der einzelnen Produktionen eine für das Publikum nachvollziehbare Programmgestaltung.
Während sechs Wochen im Mai und Juni ist es den Wiener Festwochen alljährlich ein besonderes Anliegen, Kulturereignisse selbst zu schaffen oder mitzugestalten, die höchstes künstlerisches Niveau mit gesellschaftsrelevanten Inhalten und Zielen verbinden.
Die Wiener Festwochen sind nicht nur ein Spiegel der Kulturbegeisterung dieser Stadt, sondern gleichzeitig auch ein Angebot zur Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Welten. Sie bieten einen Ausblick auf ein beeindruckendes Panorama des internationalen, zeitgenössischen Theaters. Künstlerische Vielfalt ist Trumpf. Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft zeigt das Programm Produktionen in allen Sparten: Opern, Konzerte, Theater, Performances. Im Mittelpunkt stehen Neuinszenierungen geschätzter Klassiker wie Premieren zeitgenössischer Stücke mit internationalen Regisseuren. Darüber hinaus präsentieren Künstler und Ensembles aus der ganzen Welt gefeierte Arbeiten, oft in Originalsprache. Zum Beginn des Festivals findet alljährlich auf dem Rathausplatz die traditionelle Eröffnung der Wiener Festwochen, ein Open-Air-Spektakel bei freiem Eintritt, statt.
Am 13. Mai ist es endgültig so weit: Die ersten acht Jahre brut sind vollbracht, das Staffelholz kann übergeben und das Koproduktionshaus noch einmal neu gedacht werden. Aber nicht ohne vorher noch einmal alles auf den Tisch zu bringen, was brut in den letzten acht Jahren ausgemacht hat. Performances, Theater, Tanz, Konzerte, Clubs, Diskussionen, Workshops – unterschiedliche Formate und Inhalte sollten im brut immer ineinandergreifen, sich verzahnen, sich vernetzen und gleichberechtigt zusammen existieren. Die Ausweitung der Spiel- und Handlungsräume, das Überschreiten von Grenzen, die Verdichtung von inhaltlichen Schwerpunkten waren programmatische Ziele.
Acht Jahre in acht Tagen. Das Finale wird als Plattform für die KünstlerInnen genutzt, die in den letzten Jahren eng mit brut verbunden waren. Im Zentrum steht der Wunsch, die Diversität des Programms und der Menschen, die das Gesicht des Hauses geprägt haben, noch einmal zusammenzubringen und einen Kosmos zu schaffen, in dem die KünstlerInnen, das brut-Team, ehemalige MitarbeiterInnen, PartnerInnen, KollegInnen und das Publikum in einen Austausch treten und nicht zuletzt zusammen feiern können.
Da alles mit dem Auftrag der Theaterreform begann, ein international vernetztes Koproduktionshaus für die freie Szene zu entwickeln, wird auch zu Beginn der Abschlusswoche im Rahmen eines Diskussionsabends zuerst den veränderten Arbeitsbedingungen in und mit der Szene auf den Zahn gefühlt. Das Erscheinungsbild von brut hat das Grafikkollektiv Atzgerei, dessen Mitglieder damals kaum mit ihrem Studium fertig waren und mit brut den ersten großen Auftrag bekommen hatten, äußerst erfolgreich in die Wahrnehmung des Publikums eingebrannt. Heuer feiern sie ihr zehnjähriges Jubiläum und mit dem aktuellen Programm ihr letztes brut-Design. Grund genug, einen großen Abend den großen Kollektiven zu widmen und gemeinsam mit den Fearleaders, dem Subchor und der MusikarbeiterInnenkapelle das Jubiläum und den Abschied von brut gleichzeitig zu feiern. Danke, Atzgerei. Ihr seid großartig!
Wesentliche Impulse für die Produktionen der PerformancekünstlerInnen kamen in den letzten Jahren von den experimentellen Musikformaten der elektroakustischen VELAK Gala, der Onlineplattform klingt.org und der Crossover-Reihe BRUTTO. Ihnen ist der zweite Abend der Abschlusswoche gewidmet. Die drei Formationen kuratieren gemeinsam ein Programm aus Konzerten, Klangkunstinstallationen und Videoarbeiten.
Im leer geräumten brut-Büro steuert Jan Machacek aus dem fernen Mexiko einen Schattentanz zum Abschied bei. Internationale Koproduktionen und Gastspiele waren ein wichtiges Standbein des Programms. Dabei haben der komisch-melancholische New Yorker Theatermacher Zachary Oberzan und das in Amsterdam beheimatete Glamduo Florentina Holzinger und Vincent Riebeek sich besonders tief in den brut-Herzen eingenistet. Flankiert von den queeren Sirenen Stefanie Sourial und Denice Bourbon geben sie am vierten Abend im Künstlerhaus Einblicke in aktuelle Arbeiten, bevor die Grande Doris zum Absturz bei der ultimativ schweißtreibenden Uhlich-Performanceparty in den Konzerthauskeller bittet.
Am Sonntag soll man ja bekanntlich ruhen, und dazu werden in der Bar die Videobeamer angeworfen, um den nostalgischen Erinnerungen an längst vergangene Erfolgsproduktionen bei Pizza und Cola nachzuhängen. Nach einem Klassentreffen mit den aktuellen und verflossenen MitarbeiterInnen öffnen sich die brut-Türen am Montag zu einer Farewell-Playback-Show von Sturzhelm Binder und gesterngirl für ein Wiedersehensfest mit Verwechslungen.
Am Vorabend des Finale gibt’s noch einmal volle Performancewucht von Alpha bis Omega: Oleg Soulimenko und Jasmin Hoffer bringen ihr Musical Baby zur Uraufführung, united sorry und Theater im Bahnhof bitten Gevatter Tod herbei, les Rabtaldirndln sind très en vogue, und Magdalena Chowaniec schreit sich gemeinsam mit IDKLANG in der Bar die Seele aus dem Leib. Das Büro im ersten Stock beherbergt Andrea Maurers Büro für Abschiedsangelegenheiten, und Joonas Lahtinen präsentiert Nachdenkliches auf dem Klo. Abschließend schicken die unberechenbaren God’s Entertainment das brut im Konzerthaus ins Exil.
Beim Grande Grill Finale geht dann alles dem vorläufigen Ende zu: Thomas Kasebacher und Laia Fabre verhökern bei der Auktion Alles muss raus! das Tafelsilber, Michikazu Matsune verliest Abschiedsbriefe, Robert Steijn schreibt einen solchen, Anat Stainberg widmet sich der Rede als körperlichem Akt, Julius Deutschbauer prostet mit Champagner daneben, die FOURDUMMIES besorgen das Erinnerungsfoto, Frans Poelstra groovt das Publikum mit sentimentalen Klängen ein, und Theater in Bahnhof stellen unangenehme Fragen. Mit der Reunion von SV Damenkraft/Gustav/Sissy Boyz schlägt die Wiederaufnahme von Orlanding the Dominant als Konzert den Bogen zurück zu den Anfängen der queeren Prägung des Programms und zur ersten durchschlagenden Erfolgsproduktion von brut. Danach wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen.
Auch unserem geliebten Publikum gilt für die rund 210.000 brut-Besuche in den vergangenen acht Jahren ein ganz besonderer Dank. Es gibt freien Eintritt für alle Veranstaltungen in der letzten Woche. So weit so brut!
"The experience of uncanniness teaches us that the stranger is not someone who threatens us from outside; rather the stranger is inside us and our identity is always already contaminated from the beginning." Anneleen Masschelein: The Unconcept:
The Freudian Uncanny in Late 20th Century Theory
Unter dem diesjährigen Leitmotiv unheimliche Körper/uncanny bodies treibt imagetanz unsere inneren Dämonen hervor: In Zeiten, in denen Bedrohungen und Gefahren hinter scheinbar jeder Ecke lauern und in denen sich eine Kultur der Angst breitmacht, startet imagetanz einen performativen Gegenangriff. Radikal und spielerisch nistet sich das Festival in den Leerstellen unserer Rationalisierungsprozesse ein, dort wo Zweifel, Angst und Schrecken lauern, und fordert neue Perspektiven auf unseren Umgang mit Fremdheit und Anderssein heraus. Auf dem schmalen Grat zwischen Faszination und Angst, Rationalität und Irrationalität, Menschlichem und Nichtmenschlichem bringen die Produktionen des Festivals scheinbar Vertrautes ins Wanken, spielen mit dem süßen Schauder und entführen auf unbekanntes Terrain. Mit eindringlichen Performances fordern die imagetanz-KünstlerInnen unsere Sinne heraus und aktivieren den Körper als sensibles Werkzeug der Orientierung. Und all dies mit der Forderung, das Unbekannte mit offenen Armen willkommen zu heißen.
In der letzten Saison vor dem Leitungswechsel startet brut die einjährige Reihe Secret Ingredients. Als Ergänzung zu den Koproduktionen und Gastspielen gibt brut einige Küchengeheimnisse der KünstlerInnen preis und würzt das Programm mit besonders erlesenen Extrazutaten. Lokale und internationale KünstlerInnen, die in den letzten Jahren kontinuierlich mit brut zusammengearbeitet haben, geben Einblicke in ihre künstlerischen Arbeitsprozesse und -methoden. Neben ihren neuen Produktionen bieten sie eine Reihe von persönlichen Begegnungen an, bei denen das Publikum die Möglichkeit hat, die Nase tiefer in den Topf zu stecken und bekommt, mal als Vorspeise mal als Nachtisch, dieInspirationsquellen für die Rezepturen der Küchenchefs serviert. Das Menü reicht von privaten Kochsessions mit Doris Uhlich über einen dark room Tanztee mit Kate McIntosh bis hin zu einer Ausstellung und einem Symposium über Trans-Gender Sichtbarkeiten mit Gin Müller. Secret Ingredients ermöglicht neue Perspektiven auf künstlerische Arbeiten und Prozesse und bietet eine Plattform für die Begegnung zwischen Publikum, KünstlerInnen und Institution.
Happy New Year in a BRAVE NEW WORLD! Im Zentrum des Jänner/Februar-Programms stehen die dystopischen Visionen einer krisengebeutelten Welt. Dabei richtet sich der Blick der KünstlerInnen nicht nur auf die nahe Zukunft, sondern gleichfalls auf die blinden Flecken der Geschichte, auf die Folgen unaufgearbeiteter Konflikte wie auch auf die realen Fesseln des im Netz gefangenen gläsernen Menschen. Lise Lendais beschäftigt sich mit der Kolonialgeschichte Frankreichs in Algerien und deren Folgen. Anhand persönlicher Geschichten und dokumentarischen Materials der „Pieds-noirs“, der französischstämmigen Algerier, die nach der Unabhängigkeit das Land verlassen haben, zeichnet sie Friktionen und Leerstellen nach. Gnadenlos ist die Geschichte der Zwillinge aus Ágota Kristófs Roman Das große Heft (The Notebook). In eine unmenschliche Endkriegszeit geworfen, entwickeln zwei Jungen unmenschliche Überlebensstrategien. Forced Entertainment, die unangefochtenen Großmeister des Erzähltheaters, nehmen sich der ebenso schlichten wie sachlich-kalten Sprache der ungarischen Autorin Kristóf an, um ein absurdes Szenario vom Überleben ohne Wärme ebenso klar, reduziert und schnörkellos auf der Bühne auszubreiten. Der in Wien lebende Finne Joonas Lahtinen entwickelt für YOYO – You are On Your Own den Idealzustand im Bunker nach einem Super-GAU – Spielort ist der Luftschutzkeller unter der Musikuniversität in der Seilerstätte. Die Performance beleuchtet die Beziehungen zwischen Zukunftsszenarien, Angst und Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen vor dem Hintergrund der heutigen Überflussgesellschaft.
Dunkelheit ist das neue Licht! Der Videokünstler Chris Kondek und die Publizistin Christiane Kühl beschäftigen sich anhand des Prometheus-Mythos mit der totalen Überwachung des Menschen in digitalen Kommunikationstechnologien. Sie machen in Anonymous P. auf beklemmend eindringliche Weise den digitalen Footprint, den der unbescholtene Otto-Normal Smartphone-User und brut-Gast in der Echtzeit des Theaterbesuchs hinterlässt, unmittelbar sichtbar.
Angesichts sich zuspitzender politischer Krisenherde und mit Blick auf die Renaissance politaktivistischer Ansätze in der Kunst kann dieses Thema nicht unkommentiert im Programm stehen bleiben. Unter dem Titel WAS TUN? diskutieren der Soziologe und Philosoph Oliver Marchart, der für seine alternativen Gipfeltreffen bekannte Künstler Jonas Staal und der ukrainische Kurator Vasyl Cherepanyn anhand aktueller Fallbeispiele die Rolle, die Kunst bei der Organisation von Öffentlichkeit heute einnehmen kann und könnte.
Künstlerisch-kulinarisch-kritische Leckerbissen finden sich in der Reihe Secret Ingredients, in der die KünstlerInnen das Programm mit einigen Extrazutaten würzen. So laden Forced Entertainment zum English Breakfast und berichtet bei Baked Beans mit allerlei Gebratenem von nie realisierten Projektideen aus ihrem 30-jährigen Schaffen, die Rabtaldirndln beglücken das Publikum in der Bar mit Liedern aus dem Live-Schlager-Wurlitzer ihrer Splittergruppe Marianna und Sonja. Im Rahmen der Produktion Anonymous P. reflektiert der Wiener Netzaktivist und Spieleentwickler Wolfie Christl mit der Kompanie und dem Publikum die digitale Datenüberwachung im Alltag. Außerdem wird im Institut français in Anlehnung an die Performance von Lise Lendais die Ton- Bildinstallation Prolog… Epilog gezeigt, die sich mit dem Thema Erinnerung und Geschichte auseinandersetzt. Und all das bei freiem Eintritt!
Der Themenschwerpunkt CLOSER erforscht unterschiedliche Spielarten von Intimität im Spannungsfeld von Nähe, Anziehung und Entfremdung. Im Fokus stehen dabei Themen wie Gendergleichheit, Emanzipation und Unterdrückung, die Vermittlung von Intimität und die Extreme von Phobien und Leidenschaften, die unseren subjektiven Umgang mit Nähe ausmachen. Den Auftakt macht das Freischwimmer Festival, das dieses Jahr sieben Produktionen zum Festivalschwerpunkt INTIM zeigt. Aufstrebende PerformancekünstlerInnen aus dem deutschsprachigen Raum setzen sich in ihren Produktionen mit der Frage auseinander, wo Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verlaufen und welche Rolle Intimität in der zeitgenössischen Performance spielen kann. Nach dem Festival führt eine Reihe von Premieren den Themenschwerpunkt CLOSER weiter. Michikazu Matsune und Maxim Ilyukhin bewegen sich mit ihrem neuen Stück OBJECTIVE POINT OF VIEW im Spannungs¬feld von Fremdheit und Vertrautheit, von Wahrnehmungen und der Missdeutung des Gegenübers und fragen sich, was zwei Menschen einander näherbringen kann. notfoundyet/Laia Fabre & Thomas Kasebacher wagen in ihrem neuen Stück THIS IS SO F*** DANCE! eine Fusion aus Popkultur und Volkstanz. Sie erforschen neue Formen der Berührung, Bewegung und Vergemeinschaftung und zielen darauf, eine „Gemeinschaft der Empfindungen“ mit dem Publikum entstehen zu lassen. She She Pop beleuchten in FRÜHLINGSOPFER die Beziehung zu ihren eigenen Müttern und rücken die Frage nach Sinn und Bedeutung des weiblichen Opfers in Gesellschaft und Familie in den Mittelpunkt. united sorry und Theater im Bahnhof beschäftigen sich in ihrem neuen Stück No, Nothing mit Fragen nach der Unsicherheit des Lebensglücks und dem Tod. Sie umgehen in ihrer Konzertperfor-mance jedoch jede Art von düsterem Gefühl, indem sie sich den „Danse macabre“ mit einer enormen Lebenslust aneignen. Ebenfalls im Rahmen von CLOSER findet ein Zwiegespräch der besonderen Art statt. Philippe von den Superamas trifft in der Reihe It’s a date! auf die belgische Künstlerin Miet Warlop.
Neues aus Theater, Performance und Live Art
Die Verquickung von privatem und öffentlichem Leben ist ein allgegenwärtiger Topos unserer Zeit. Soziale Netzwerke und Reality-TV, Abhörskandale, Spionage und Überwachung – all das sind alltägliche Phänomene geworden. Doch wie verhält es sich über das Private hinaus mit dem Intimen?
Das diesjährige Freischwimmer-Festival schickt sieben KünstlerInnen und Gruppen auf die Suche nach Intimität. Worin unterscheidet sie sich vom Privaten? Wie kann sie im öffentlichen Theaterraum thematisiert werden? Wo können Grenzen überschritten oder auch gezogen werden, Perspektiven verkehrt, Inneres nach außen gewendet oder Phobien und Sehnsüchte geteilt werden? Freischwimmer 2014/15 findet Intimität im dänischen Fernsehen und auf österreichischen Bauernhöfen, in gelatinereichen Radioshows oder dem mütterlichen Fitnessstudio, beim Tierpräparator, in ungewöhnlichen Familiengeschichten oder bei einem ganz privaten Tanz im öffentlichen Raum. www.freischwimmer-festival.com
FREISCHWIMMER 2014 – Neues aus Theater, Performance und Live Art ist ein Gemeinschaftsprojekt von Sophiensæle Berlin, FFT Düsseldorf, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a. M., brut Wien und Theaterhaus Gessnerallee Zürich. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin – Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten sowie von Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf, Kulturamt Frankfurt a. M., Karl Hofer Gesellschaft, Autorenstiftung Frankfurt a. M., Kulturamt der Stadt Gießen, Gerda Weiler Stiftung, Fazit Stiftung, Institut für Angewandte Theaterwissenschaften, Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Kulturabteilung der Stadt Wien, Land Oberösterreich, Bundeskanzleramt Österreich, Österreichisches Kulturforum Brüssel, Stadt Zürich Kultur, Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung und Migros Kulturprozent.
Festivalpass € 40,–/25,–/20,– mit brutkarte*
Tagesticket € 18,–/12,–/10,– mit brutkarte*
Einzelticket € 14,–/8,–/6,– mit brutkarte*
Grenzen durchqueren unser Leben als Demarkationslinien zwischen Kulturen, Ländern und Identitäten. Sie entwerfen Kategorien des Verstehens, die gleichzeitig einer ständigen Hinterfragung und Neubestimmung bedürfen. In den letzten sieben Jahren hat brut beständig die Grenzen zwischen künstlerischen Disziplinen, Gender-identitäten, zeitgenössischer Kunst und Popkultur ausgelotet, um den Status quo zu untergraben und produktive Aufbrüche entstehen zu lassen. Künstlerische Vitalität lebt davon, die Spielräume und ihre Grenzen immer aufs Neue auszuloten. Mit Entgrenzung stellt brut zu Beginn der achten Spielzeit eine Reihe von Performances vor, die die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Theater und Außenwelt, zwischen gelebter Identität und künstlerischer Aneignung, zwischen Trauma und Traum ins Wanken bringen. In ihrer neuesten Soloperformance Universal Dancer geht Doris Uhlich aufs Ganze. Weil sie sich nicht mit der vermeintlichen Unveränderbarkeit der Verhältnisse abfinden mag, wird sie selbst zum Epizentrum eines ansteckenden Bebens, das das Potenzial in sich birgt, zur Massenbewegung anzuschwellen. Gin Müller & Gorji Marzban bringen in TRANS GENDER MOVES die persönlichen Laufbahnen von drei Transgender-Personen auf die Bühne. Diese erzählen von ihrem Transformationsprozess, wobei sie konventionelle Ideen von Gender und Sexualität überwinden und nach einer selbstdefinierten Gender-identität streben. Kate McIntosh startet in All Ears den großen Lauschangriff auf das Publikum. Dabei webt sie auf höchst subtile und charmante Weise aus der gemeinsam geteilten Zeit im Theater eine Geschichte, mit der sie ihr Publikum am Ende weit weg an unbekannte Orte entführt. Watch Out: Der bildende Künstler Vlad Basalìcì und die Choreografin Ivana Müller verwandeln mit den zwei kombinierten Stücken It is what it is und We Are Still Watching den Theaterraum in ein soziales Labor, in dem sich eine vorübergehende Gemeinschaft bildet. Innerhalb der zwei sehr klar konzipierten Szenarien verführen sie das Publikum dazu, genau zu beobachten und zwischen den Zeilen zu lesen, während es subtil aus seiner passiven BeobachterInnenrolle ins Zentrum des Geschehens rückt. Eine Grenzerfahrung der anderen Art machte Florentina Holzinger im vergangenen Jahr bei einem schweren Bühnenunfall während einer Aufführung von Kein Applaus für Scheiße. Mit ihrer neuen Produktion Recovery stellt sie sich dem Trauma und behandelt einmal mehr die Frage, welche Möglichkeiten der Heilung aus der Kunst gewonnen werden können.
Ein showcase von brut, DSCHUNGEL und Schauspielhaus
Zum Saisonende findet bereits zum sechsten Mal im brut unter dem Motto Alles muss raus! der große Ausverkauf statt. Kurz vor der Sommerpause sind einige Highlights aus der vergangenen Saison zum sensationellen Sonderpreis von € 4,99 pro Stück zu sehen. Das Alles muss raus!-Festival bietet dem heimischen Publikum Gelegenheit, Verpasstes nachzuholen und Geliebtes erneut zu sehen. Auch bei internationalen Gästen, KuratorInnen, ProduzentInnen und JournalistInnen ist das Festival beliebt, da es die Chance bietet, junge brut-KünstlerInnen an fünf Tagen geballt kennenzulernen und mit Festival- und Gastspieleinladungen in die Welt hinauszutragen!
Während sechs Wochen im Mai und Juni ist es den Wiener Festwochen alljährlich ein besonderes Anliegen, Kulturereignisse selbst zu schaffen oder mitzugestalten, die höchstes künstlerisches Niveau mit gesellschaftsrelevanten Inhalten und Zielen verbinden.
Die Wiener Festwochen laden 2014 zum ersten Mal in ihr neues Festwochen-Zentrum ein: zum Verweilen, zum Austausch und zu künstlerischen Begegnungen. Die Ausstellung des ägyptischen Künstlers Wael Shawky Al Araba Al Madfuna eröffnet uns seine Welt der Mythen, realen Gegebenheiten und Imaginationen. Die Passagegalerie des Künstlerhauses verwandelt sich in die Videoinstallation It´s a dream des in Taipeh lebenden Künstlers Tsai Ming-liang. In wöchentlichen Salongesprächen, jeden Samstag um 11.00 Uhr, widmen sich Künstler und Gäste ausgehend von Festwochen-Produktionen einem speziellen Thema. In Filmmatineen, jeden Sonntag um 11.00 Uhr, mit anschließendem Gespräch stellen Festwochen-Künstler persönlich Filme vor, die sie inspirierten.
Weitere Informationen unter: www.festwochen.at
Die Themen Volkskultur und Folkloristik haben die zeitgenössische Performance erobert, nicht nur in Wien. Die künstlerische Auseinandersetzung dreht sich um gelebte Praktiken und soziale Realitäten jenseits des Theaters. So beziehen beispielsweise Volkstänze ihre Bedeutung nicht in erster Linie aus der Virtuosität der Darstellung, sondern aus der sozialen Komponente, der gemeinschaftsstiftenden Praxis. Als soziales Phänomen sind folkloristische Praktiken aber auch ideologisch behaftet und dadurch ambivalent. Eben diese Ambivalenz ist für viele KünstlerInnen besonders interessant. Der Themenschwerpunkt Village People greift diese Diskussionen auf, beschäftigt sich mit der Fiktion von Tradition und bereichert sie mit dem Potenzial des Imaginären.
Ende April nimmt sich Simon Mayer der folkloristischen Traditionen seiner oberösterreichischen Heimat an. Das Grazer Theater im Bahnhof und das Gaststubentheater Gößnitz unternehmen gemeinsam den Versuch einer theatralen Dorfsoziologie im Gasthaus Schlingerhof in Floridsdorf. Und Die Rabtaldirndln gehen mit ihrem Unternehmen EINKOCHEN der Wiener Bobo-Gesellschaft ans Eingemachte. Am 1. Mai setzen Die Rabtaldirndln den Themenschwerpunkt Village People fort und laden zu einem Picknick mit Passionsspielcharakter und über¬sinnlicher Erscheinung in den Prater. Doris Uhlich aktualisiert und abstrahiert in Verfassung das gemeinschafts¬stiftende Potenzial von Volkstänzen, indem sie Tradition und Popmusik zueinander in Bezug setzt. Das Kollektiv myvillages.org eröffnet im Anschluss den International Village Shop im brut. Hier werden neue lokale Produkte vorgestellt, die gemeinsam mit den EinwohnerInnen diverser Dörfer konzipiert und realisiert wurden. In einer Lectureperformance und einer Installation werden Fragen nach Tradition, Authentizität und Identität thematisiert. Außerdem bieten Thomas Kasebacher und Laia Fabre im Rahmen von Village People einen Workshop an, der sich mit den Strukturen von Volkstänzen auseinandersetzt und Möglichkeiten erprobt, fiktive Volkstänze zu erfinden.
„When you care, you use your attention, your intelligence, your awareness. No bullshit, no money, no magic, no cowardice.“
Sarah Vanhee
imagetanz nimmt in diesem Jahr eine der menschlichen Kernkompetenzen ins Visier: Care! Mit dem zweischneidigen Motto „Who cares?“ oder „Wen kümmerts?“ im Hinterkopf präsentiert imagetanz radikale und spielerische Positionen von lokalen und internationalen KünstlerInnen und spannt einen Bogen von persönlichen und öffentlichen Themen bis hin zu soziopolitischen und künstlerischen Fragestellungen.
Während Wien in Sachen Gesundheits- und Sozialwesen in internationalen Umfragen Spitzenplätze einfährt, legen die KünstlerInnen Schlupflöcher dieser vermeintlichen Rundum-Fürsorge des Staates frei und gehen den sozialen und performativen Dynamiken von Zwischenmenschlichkeit auf den Grund. Mit dem Fokus auf „Care“ als Kompass navigiert imagetanz durch die stürmischen Gewässer der Gegenwart und hält am Horizont nach möglichen Zukunftsszenarien Ausschau. Mit Blick auf zunehmend prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen nimmt das Festival bestehende Strategien der Fürsorge ins Kreuzverhör: es enthüllt undurchsichtige Abläufe der Altenpflege und konfrontiert mit den Herausforderungen einer inklusiven Gesellschaft, in der alle in den Genuss von gleichen Rechten kommen. Das Festival dreht sich um die Frage, wie Individualität und Kollektivität ineinandergreifen: die KünstlerInnen testen die Hypothese einer Lecture For Every One, die als ein gutartiger Virus in den unterschiedlichsten Meetings und Versammlungen ihre unvorbereiteten Opfer mit Gedanken zum Zusammenleben in der zeitgenössischen Gesellschaft befällt. Oder sie rufen zum gemeinsamen Grundeinkommenstanz auf, um die bedingungslose Umverteilung wirtschaftlicher Ressourcen an alle Mitglieder der Gesellschaft einzufordern. Auf der Suche nach neuen Dimensionen von taktilen zwischenmenschlichen Beziehungen und empathischen Praktiken experimentiert imagetanz an der Schnittstelle von Politik und Performativität außerdem mit Nanopolitik und dem Wunsch nach einer psychischen Solidarität.
Um Fürsorgepraktiken auch im künstlerischen Kontext zu verorten, erforscht das Festival den Austausch zwischen PerformerInnen und Publikum: Rollen und Dynamiken werden spielerisch verschoben und legen den Fokus auf Erwartungen und Wünsche. Und wer kümmert sich eigentlich um die KünstlerInnen selbst?
Nach der langjährigen Leitung durch Bettina Kogler ist das diesjährige imagetanz Festival erstmals von Katalin Erdödi kuratiert worden, die im April 2013 die künstlerische Leitung des Festivals übernommen hat.
Jänner, Februar. Der Winter droht endlos zu werden, und der Hochnebel über Wien lässt die Hoffnung versiegen, dass die Sonne jemals wieder scheinen könnte. Das Gefühlsbarometer steckt im Dauertief fest, wer kann, flüchtet sich in wärmere Gefilde. Oder ins brut. Denn die KünstlerInnen in diesem Programm schauen den Gefühlskrisen schonungslos in die grotesken Fratzen und sagen You Are Not Alone wie Kim Noble oder Tell Me Love Is Real wie Zachary Oberzan. Hinter jedem dieser Muntermacher stecken Abgründe, die daran zweifeln lassen, ob das Glück auf dieser Welt noch ein Zuhause hat. Während Kim Noble sich in seiner zweifelhaften Comedy-Performance durch renitente menschliche Übergriffe und Grenzüberschreitungen aus der Isolation seiner Einsamkeit zu befreien versucht, singt Zachary Oberzan sich seine Suizidgedanken mit der Folkgitarre vom Herzen und flüchtet in die verklärenden Illusionen der wahren Liebe. Die Frauen des legendären Grazer Theaters im Bahnhof nehmen sich inmitten ihrer Midlife-Crisis der Pubertätsallüren ihrer Sprösslinge an. Man darf gespannt sein, ob den Heranwachsenden ihre Mütter peinlicher sind als den Damen ihre Teenager. Die in London lebende Hawaiianerin Stacy Makishi stellt sich in The Falsettos unter Zuhilfenahme des therapieerfahrenen Profikillers und Serienhelden Tony Soprano (The Sopranos) vor, wie es wäre, die eigene Mutter umzubringen. Sie fragt sich, ob sie damit ihre Angst vor deren Sterblichkeit besser bezwingen könnte als mit endlosen Sitzungen beim Therapeuten. Da bleibt zu hoffen, dass die Druiden der zeitgenössischen Performance Florentina Holzinger und Vincent Riebeek mit Wellness zwischen Laufbändern und Crosstrainern Abhilfe schaffen, denn „the only art that is worth making is an art that heals“. Wellness für Körper und Geist verspricht nach all den emotionalen Roller-Coasters Satu Herrala in der Sauna des Amalienbads. In vier Aufgüssen gehen ExpertInnen dem Okkulten und Mystischen in Wien und dessen Platz im Leben nach.
Im November und im Dezember gibt es im brut mit dem Themenschwerpunkt Nachhaltig scheitern einen Perspektivenwechsel in Sachen Nachhaltigkeit! Nachhaltige Entwicklung, das viel gebrauchte und mittlerweile beinahe sinnentleerte Schlagwort der letzten Jahre, wird gehörig durch den Fleischwolf gedreht. Aus künstlerischer, soziopolitischer und wirtschaftlicher Sicht wird das Scheitern einmal so richtig und nachhaltig zelebriert. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Frage: Was könnte es bedeuten und was könnte es uns ermöglichen, nachhaltig und fortwährend zu scheitern?
In den Produktionen, die im Rahmen des Themenschwerpunkts gezeigt werden, wird die Möglichkeit des Scheiterns zu einer aktivierenden Strategie, zu einer Form der Gesellschafts- und Selbstkritik. Dem Wunsch nach Erfolg und „Performance“ in Kunst und Gesellschaft zu widerstehen ermöglicht, unsere privilegierte, erfolgreiche Position zu hinterfragen und die Regeln zu demontieren, die die subjektiven Pole von Erfolg und Misserfolg definieren. Nachhaltig scheitern ist in diesem Sinne ein Akt der Befreiung, der Platz für etwas anderes, vielleicht auch für etwas gänzlich Neues schaffen kann.
Zum Auftakt des Themenschwerpunkts offenbart Jan Machacek in Normarena das Dilemma des weißen und heterosexuellen Mannes und wirft die Frage auf, ob und wie eine privilegierte Position von innen heraus kritisiert werden kann. Lola Arias rekonstruiert in The year I was born die turbulente chilenische Geschichte zur Zeit der Militärdiktatur Pinochets und zeigt, wie die heute junge Generation mit der Rolle ihrer Eltern auf der Seite oder der Gegenseite des damaligen Regimes umgeht. Den diskreten Charme der westlichen Gesellschaft bringen die PerformerInnen von Gob Squad in ihrem Stück Western Society gehörig zum Bröckeln, indem sie ihre AkteurInnen bei einer trostlosen Dinnerparty kläglich daran scheitern lassen, Nähe und Gemeinschaft herzustellen. Mit Humor und Ironie macht Ivana Müller die vorherrschende politische Rhetorik Europas zum Thema, die auf Teufel komm raus versucht, Gemeinsamkeit herzustellen. IN COMMON offenbart die Spielregeln, die Minderheiten und Mehrheiten, GewinnerInnen und VerliererInnen entstehen lassen. Ein fiktives Zukunftsszenario entwirft Bernadette Anzengruber in DICK: Nach dem Sieg der Nuclear Feminists herrscht eine neue soziale Ordnung, in der u. a. die Heteronormativität zur Subkultur wird und lediglich in illegalen Clubs bestehen kann. Zum Jahreswechsel rollt brut schließlich für das Performanceduo Martin Schick und Damir Todorovic und sein Stück HOLIDAY ON STAGE – last days of luxury den roten Teppich aus, und die beiden ergehen sich in einer exzessiven Feier der kapitalistischen Dekadenz. Beim Thementag Schnellkurs Scheitern wird mit Diskussionen, Filmscreenings, Lectures und Interventionen schließlich dem letzten Unbehagen vor dem Scheitern der Garaus gemacht.
Österreich steuert dem Höhepunkt des Superwahljahres entgegen. Es wird um Stimmen geworben, diskutiert und gestritten. Stimmen werden hochgerechnet, ausgewertet, in Trends, Tendenzen und Grafiken gepackt. Es wird versprochen, dass Österreich so bleibt, wie es ist, und noch viel besser wird. Die so umworbenen Stimmen bleiben dabei in der Regel stumm. Nicht so im brut. Das Kollektiv rund um den Theatermacher und queeren Aktivisten Gin Müller mischt mitten in der heißen Wahlkampfphase mit und bietet mit dem Rebelodrom eine Plattform für verschiedenste AktivistInnen aus Wien, deren Themen im politischen Ringen um die gesellschaftliche Mitte garantiert nicht mehrheitsfähig sind. Am Vorabend der Nationalratswahl kann mit dem Spanier Roger Bernat das Wählen schon mal fleißig geübt werden. Für Pending vote wird der Theatersaal in ein Parlament verwandelt, in dem das Publikum die Spielregeln verschiedener demokratischer Systeme erprobt. „Wenn die Politiker Theater machen, dann machen wir Politik im Theater!“ (Roger Bernat) Am Wahlabend selbst laden die sechs SpitzenkandidatInnen der MISSWAHL 2013 von Barbara Ungepflegt zur Direktwahl ins brut-Wahllokal und lassen die soeben ab-, wieder- oder neugewählten VolksvertreterInnen alt ausschauen. Und wenn der Politzirkus dann seinen Kater ausschläft, die Wahlkampfblessuren pflegt und sich bei ersten Koalitionsverhandlungen schwere Erinnerungslücken an gerade vergangene Tage auftun, nehmen sich Rimini Protokoll der Macht der Stimme noch einmal aus einem ganz anderen Blickwinkel an. In Remote Wien vertraut sich eine Horde von Individuen einer künstlichen Stimme aus dem Kopfhörer an und lässt sich von dieser durch den öffentlichen Stadtraum führen. Im alltäglichen Treiben der Stadt wird der Frage nachgegangen, wie sich Gemeinschaft eigentlich bildet. Vom öffentlichen Raum zurück ins Private: Das Künstlerkollektiv Bouillon Group aus Tiflis lädt zu einem typisch georgischen Fest, das vom Toastmaster – auf Georgisch „tamada“ – zelebriert wird. Beim gemeinschaftlichen Abendessen wird die Tradition der Tischansprache aufgegriffen. Und mit VIENNA’S NEXT TOP ARTIST von God’s Entertainment nimmt das Wählen einen neuen Lauf: Wiener KünstlerInnen haben die Möglichkeit, ihre Stimmen zu erheben und sich mit ihren Projektvorschlägen am Wettbewerb um den höchst attraktiven EMMA 7 Award zu beteiligen. Das neue monatliche Konzertformat BRUTTO gibt KünstlerInnen aus verschiedenen Szenen und Genres eine Stimme und erweitert den musikalischen Common Ground auch in Richtung anderer Disziplinen.
Ein showcase von brut, DSCHUNGEL und Schauspielhaus
Pünktlich zum Saisonende findet unter dem Motto Alles muss raus! wieder der große Ausverkauf im brut statt – heuer bereits zum fünften Mal. Zu sensationellen Sonderpreisen sind einige Highlights der vergangenen Saison zu sehen. Beim heimischen Publikum und bei internationalen Gästen ist das Festival gleichermaßen beliebt, bietet es doch die letzte Chance, vor der Sommerpause noch einmal Tanz und Performance im brut in vollen Zügen zu genießen! Für KuratorInnen, ProduzentInnen, JournalistInnen und Gäste aus aller Welt ist das Festival eine wichtige Plattform, um junge KünstlerInnen kennenzulernen und in die Welt hinauszutragen.
„Wie kann das klassische Ballett für mich Material sein, um meine Grenzen als Tänzerin und Choreografin neu auszuloten, um mich mit einer Tanzsprache und einer Tanzwelt zu konfrontieren, die mir fremd sind? Wie kann ich mich dem Fremden annähern, ohne meine Beobachtungen gleich in Schubladen zu stecken, um mir das Fremde so schnell wie möglich vertraut zu machen? Diese Trilogie ist geprägt von Neugierde auf mir Unbekanntes.“ Doris Uhlich
Endlich ist es so weit: Doris Uhlichs umjubelte Balletttrilogie SPITZE, Rising Swan und Come Back ist vollendet und im Juni vollständig im brut zu sehen. Uhlich, mittlerweile eine der erfolgreichsten Choreografinnen für zeitgenössischen Tanz in Österreich, bringt in Zusammenarbeit mit ihren Dramaturginnen das klassische Ballett auf eine gänzlich neue Art und Weise auf die Bühne. Alle drei Projekte gehen inhaltlich über den Balletttanz hinaus und sind keine reinen Bewegungsanalysen. Vielmehr stehen Menschen im Mittelpunkt, die sich dem Ballettsystem annähern, zu ihm zurückkehren oder sich von ihm wegbewegen. Für Uhlich steht das Ballett für eine Welt, in der man scheitert, wieder aufsteht, liegen bleibt oder sich an die Spitze arbeitet. Wer kennt das nicht? www.dorisuhlich.at
„How to get from here to there“ fragen die Wiener Festwochen heuer mit einer Bilderserie des indischen Raqs Media Collective: Wie kommen wir aus unseren Zusammenhängen, historischen und ideologischen Vorbestimmtheiten heraus, und wohin wollen wir denn kommen? Ist das „there“ überhaupt anders als das „here“, und schafft es die Kunst, immer wieder ein „Alles anders“ zu behaupten? Im letzten Jahr der Schauspieldirektion von Stefanie Carp sind zu diesen Fragen im brut vier junge, inhaltlich wie ästhetisch genau artikulierte Positionen der internationalen Performanceszene zu sehen: Mariano Pensotti erzählt mit Cineastas parallele Geschichten vom Filmemachen und von Filmemachern in Buenos Aires. Oliver Frlji? spiegelt in Ich hasse die Wahrheit die Abgründe des Jugoslawienkriegs in den Zerwürfnissen seiner eigenen Familie. Christiane Jatahy versetzt Fräulein Julie ins reiche Rio de Janeiro von heute, wo hinter den sozialen Verhältnissen noch immer Rassismus lauert. Und Lucy von der englischen Newcomer-Gruppe GETINTHEBACKOFTHEVAN singt in Big Hits immer wieder „Hallelujah“ – auf der Suche nach sich selbst und dem Wesen der Performance. Weitere Infos unter www.festwochen.at
Seit mehr als 20 Jahren existiert das Festival imagetanz und interessiert sich für den Moment, in dem Choreografie und Gesellschaft aufeinanderkrachen. Am besten mit höchster Risikobereitschaft. Alljährlich birgt der Untertitel ein Motto, das dabei als lockere Klammer dient. In diesem Sinne prägen Galaktisches, Universelles, Urmaterielles, Sphärisches, Ewiges und Zukünftiges das Festival imagetanz 2013. Das Thema Science-Fiction ist damit vorprogrammiert und wird dann besonders interessant, wenn die Vision bereits Vergangenheit ist. Als letztes menschliches urstoffliches Substrat bleibt auf einer materiellen Ebene wohl nur der nackte Körper, auf einer immateriellen hingegen nur der Geist – oder Mind & Spirit. Beide Ebenen spielen im Festival eine wiederkehrende Rolle. Befruchtung, Mütter und schwarze Löcher rühren an die Themen des Fortbestands und weisen darauf hin, dass der Ereignishorizont niemals kleiner wird. Vielleicht können nur ein Blick aus großer Entfernung und ein bisschen Esoterik als Gleitmittel die tatsächliche Bedeutung gegenwärtiger irdischer Probleme zutage bringen.
Kaum liegen der Jahreswechsel und die ewige Litanei an Jahresrückblicken hinter uns, blickt brut mit einem kleinen Themenschwerpunkt nicht nur auf ein Jahr, sondern auf ganze Leben zurück. Ziel dieser Rück-„Schau“ ist jedoch nicht die melancholische Vergangenheitsverklärung, sondern vielmehr die Frage nach dem Potenzial des Vergangenen im Hier und Jetzt.
Doris Uhlich ermöglicht fünf ehemaligen BalletttänzerInnen ein ganz und gar ungewöhnliches Come Back jenseits ihrer normierten Körpertechniken und fragt damit auch ganz konkret nach dem politischen Potenzial einer zeitgenössischen (Ballett-)Revolution. Die DarstellerInnen in Oleg Soulimenkos Made in Austria, er selbst ebenfalls Wahlwiener mit russischen Wurzeln, kann man getrost als Musterbeispiele gelungener Integration bezeichnen. Postmigrantisches Theater einmal ohne Betroffenheitsgestus, sondern mit dem Selbstbewusstsein der Beteiligten, es in Österreich geschafft zu haben. In acht sehr persönlichen Erzählungen blicken die PeformerInnen in dieser Wiederaufnahme einer Koproduktion mit den Wiener Festwochen vom vergangenen Mai auf ihre eigene Integrationsgeschichte zurück.
Das Performancekollektiv She She Pop, ebenfalls erfahren mit Fragen der Geschichtsaufarbeitung, bittet diesmal nicht seine Väter, sondern gleichaltrige Frauen aus dem ehemaligen Ostdeutschland auf die Bühne, um gemeinsam Schubladen der Vergangenheit zu öffnen und zu fragen, was geblieben ist. Inwieweit sind ganz persönliche Erfahrungen einer Kindheit und Jugend in Westdeutschland (She She Pop) bzw. in Ostdeutschland (ihre Doubles) prägend für eine Identität 20 Jahre nach dem Fall der Mauer?
Drei außergewöhnliche Projekte für die es sich lohnt, nicht nur zurück, sondern auch ins brut zu schauen!
Die Welt ist unübersichtlicher geworden. Immer mehr Möglichkeiten müssen miteinander verglichen werden.
Immer neue Deutungen sollen die Ordnung der Dinge begreifbar machen. Umso mehr sehnen sich die Menschen nach sinnstiftenden Erklärungsmustern, um der Beliebigkeit der Bedeutungen zu entkommen. Mit vier Produktionen und einem Vortrag widmet sich brut im November und Dezember der Konstruktion und Dekonstruktion von Sinnstrukturen. Die Choreografin Anne Juren und der bildende Künstler Robert Rauschmeier legen ihrer Performance Lost & Found eine fiktionale Geschichte des Tanzes zugrunde, die von den Anfängen der Zivilisation bis in die nahe Zukunft reicht. Das verloren gegangene und nun neu erfundene Werk ist freilich keine chronologische Geschichtsschreibung, sondern eine Sammlung, die dem Wesen des Tanzes erzählerisch nachgeht. Andrei Andrianov und Oleg Soulimenko setzen sich in ihrer neuen gemeinsamen Arbeit Old Chaos, New Order erneut mit den kulturellen Prägungen zeitgenössischer Performance in West und Ost auseinander. Turning Turning der flämischen Künstlerin Sarah Vanhee dagegen ist eine Choreografie des Unausgesprochenen: Drei PerformerInnen entledigen sich auf der Bühne ihres unreflektierten Gedankenflusses. Unzensiert und frei von moralischen, politischen oder intellektuellen Hindernissen wird drauflosgeplappert. Und schließlich erhält das Publikum an Kate McIntoshs Worktable die einmalige Chance, sich der blinden Zerstörung hinzugeben, nicht aber ohne im Austausch dafür ein anderes zertrümmertes Objekt zusammensetzen zu müssen: Dekonstruktion und Rekonstruktion als Do-it-yourself-Performance.
Neues aus Theater, Performance und Live Art
Machen wir uns keine Illusionen. Die neoliberale Verwertungsgesellschaft ist schon lange in der Kunst angekom¬men. Nicht nur im engeren Sinne der Urheberrechtsdebatte, sondern auch in den Bedingungen der Kunstproduktion. Während die künstlerische Ich-AG unter dem ökonomischen Aspekt den Beigeschmack der Fremd- und Selbstausbeutung hat, ermöglicht sie im künstlerischen Sinne ein differenziertes „Sicheinbringen“. Sie setzt Prozesse in Gang, aus denen sich ein inhaltlicher Mehrwert ergibt. Im Sinne der diesjährigen Freischwimmer-Projekte heißt das konkret: Flieht, brecht aus, segelt los aus diesem System! Nutzt das Humankapital für sinnvolle Zwecke! Seid ungerecht in der Kritik und spielt mit den Zeichen, Logiken und Systemen! Das brut beteiligt sich bereits zum vierten Mal am Festival. Für inzwischen international erfolgreiche Gruppen wie God’s Entertainment oder Die Rabtaldirndln war das Freischwimmer-Festival ein wichtiger Schritt hin zur überregio-nalen Wahrnehmung ihrer künstlerischen Arbeit. Dieses Jahr gehen zwei Gruppen aus Wien mit auf Tour: studio 5 und Joonas Lahtinen u.a. www.freischwimmer-festival.com
FREISCHWIMMER 2012/13. Neues aus Theater, Performance und Live Art ist ein Gemeinschaftsprojekt von Sophiensæle, FFT Düsseldorf, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt a. M., Kampnagel Hamburg, brut Wien und Theaterhaus Gessnerallee Zürich. Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds, der Kulturabteilung der Stadt Wien, des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur, der Stadt Zürich Kultur, von Migros Kulturproduzent, der Fachstelle Kultur Kanton Zürich, der Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung, der Kulturbehörde Hamburg, des Kulturamts der Landes hauptstadt Düsseldorf und der Stiftung van Meeteren Düsseldorf.
Festivalpass € 40,–/25,–/20,– mit brutkarte*
Tagesticket € 18,–/12,–/10,– mit brutkarte*
Einzelticket € 14,–/8,–/6,– mit brutkarte*
Die Redefreiheit ist ein Grundrecht der westlichen Gesellschaft. Sie ist das Recht auf freie Rede und Verbreitung einer Meinung in der Öffentlichkeit. Was geschieht aber im Zuge eines paradigmatischen Medienwechsels hin zu einer Web 2.0-Öffentlichkeit? Die leitenden Fragen lauten im Zeitalter des Internets: Was kann, darf und soll überhaupt noch gesagt werden, und was muss ungesagt bleiben? Wie und wo wird die Freiheit der Rede im Netz instrumentalisiert? Im Themenschwerpunkt Freedom of Speech gehen dem fünf Produktionen aus Deutschland, Österreich und Belgien von September bis Ende Oktober 2012 nach.
An die Stelle des klassischen Sender-Empfänger-Modells ist eine zersplitterte Öffentlichkeit im Netz getreten, das Zeitalter des einen Programms und der einen Sendung geht zu Ende. So ist durchaus unklar, ob der Massenmord in Ruanda mit der heutigen Mediennutzung so vielleicht nicht passiert wäre. HATE RADIO des International Institute of Political Murder zeigt, wie ein Radiosender zum Mordinstrument wurde und Worte töten konnten. Das Reenactement einer Radiosendung aus dem Jahr 1994 ist keine bloße Wiedergabe dokumentarischen Materials: Theater wird als Medium hier selbst zum Ort der Aufklärung.
Die Austro-Mex-Gruppe um Gin Müller hat den Medienwechsel bereits vollzogen und tritt in Melodrom/The Making of a Rebellious Telenovela in Kontakt mit global agierenden AktivistInnen und AutorInnen. Dadurch entsteht eine vielstimmige AutorInnenschaft, in der die Inhalte nach dem Prinzip einer zirkulativen Informationsverteilung von vielen Identitäten weitergeleitet und medial sichtbar gemacht werden. In einem „Open Source Tool (OST) to create Rebellion“ diskutieren sie über gemeinschaftliches politisches Handeln, Liebe und ein mörderisches Medienkomplott.
Die Klage über das Zersplittern der Öffentlichkeit im Netz spiegeln dagegen Pieter De Buysser und Hans Op de Beeck in ihrem Book Burning-Projekt. Angesichts der Verfügbarkeit unermesslicher Datenmengen über das WWW machen beide Künstler einen Vorschlag, wie man mit dieser Informationsflut umgehen kann. Es geht um die Notwendigkeit, Filter zu finden, um die unübersichtlich gewordenen Informationen wieder zu organisieren. Während Bücherverbrennungen in der Geschichte immer ein Akt der Zensur waren, geraten sie bei De Buysser und Op de Beeck zu einem Akt der Befreiung. Redefreiheit meint dann nicht mehr nur die Freiheit, etwas zu sagen, sondern auch die Freiheit, etwas nicht sagen zu müssen.
Data Dealer. Legal, illegal, scheißegal. macht unbedarfte Facebook-NutzerInnen zu staunenden DatenhändlerInnen und widmet sich mit viel Witz und Ironie dem hochaktuellen Thema des Rechts auf persönliche Daten im digitalen Zeitalter.
Was heißt verantwortlicher Umgang mit Daten? Am Ende des Themenschwerpunkts steht schließlich mit Assassinate Assange der Messias des Internets, der vom gefeierten Befreier zum Verfolgten wurde. Angela Richter beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Thema Hacktivismus und hat für diese Arbeit persönliche Interviews mit Julian Assange geführt. Das Skandalon scheint weniger der Inhalt der auf Wikileaks veröffentlichen Depeschen zu sein, denn große Neuigkeiten oder allzu Geheimnisvolles traten dabei nicht zutage. Vielmehr geht es um den „Verrat“ an sich. Und den bestraft die Öffentlichkeit auf ihre ganz eigene Art und Weise. Redefreiheit stellte einst die Grundbedingung für das Funktionieren gewisser Machttechniken dar. Andere Verfahren wie Gleichschaltung, Kontrolle, Zensur oder die aktive Einschränkung werden in Zeiten von Web 2.0 nicht mehr benötigt, da sich die Ereignisse und Informationen vervielfältigen, jagen und selbst vertreiben. An die Stelle des Gegensatzes von dem, wasgesagt werden darf und dem, was nicht gesagt werden darf, tritt der Unterschied von dem, was durchkommt, und dem, was auf der Strecke bleibt.
Bereits zum vierten Mal heißt es zum Saisonende Schnäppchenjagd bei brut Wien, DSCHUNGEL WIEN und Schauspielhaus Wien, denn: Alles muss raus! Der große Sommerschlussverkauf findet in diesem Jahr von 20. bis 24. Juni statt. Fünf Tage lang sind wieder Highlights der letzten Saison zu sehen – zum sensationellen Sonderpreis von 4,99 Euro pro Stück. Sechs Produktionen stehen im brut zum Verkauf, und als Extrazuschlag gibt es noch die kostenlose Performance Letters of Friendship von Andrei Andrianov & Amanda Piña, die im Rahmen des Austauschprojektes Music here, Music there. Moscow – Vienna in Moskau entstand und erstmals in Wien gezeigt wird. Die beiden KünstlerInnen sind auch an der Eröffnungsperformance TEATRO von nadaproductions nicht unbeteiligt, die vom Standard als hitverdächtig eingestuft wurde. Doris Uhlich zeigt mit Sneak Preview eine Skizze im Stadtkino und das argentinisch-schweizerische Duo Laura Kalauz & Martin Schick macht noch einmal mit ihrer weltweit erfolgreichen Freischwimmer-Produktion CMMN SNS PRJCT Halt im brut. Deborah Hazler/Nanina Kotlowski und Kerstin Olivia Schellander lassen in ihrer aktuellen imagetanz-Produktion offnature nackte Haut zum Kostüm werden und united sorry alias Frans Poelstra und Robert Steijn sind endgültig Lost in Space. Den wörtlich zu nehmenden Abschluss des fröhlichen Alles muss raus!-Reigens bilden Andrea Maurer & Thomas Brandstätter/studio 5 mit ihrer wundervoll humorvollen und hintergründigen Arbeit THE END.
Alles muss raus! bildet nicht nur den Abschluss der Saison. Das Festival lockt jedes Jahr internationale Gäste, KuratorInnen, ProduzentInnen und JournalistInnen, die volle Ladung Wiener und österreichischer Produktionen in die Welt hinaustragen. Alles muss raus! ist die erste österreichische Plattform, die nachrückenden KünstlerInnengenerationen Aufmerksamkeit weit über nationale Grenzen hinaus garantiert. brutproduktionen touren weltweit und erhalten Einladungen zu renommierten Festivals – auch dank dieses Showcases. Seit 2008 wurden über 600-mal brutproduktionen außerhalb Wiens gezeigt. Doch Alles muss raus! bietet auch dem heimischen Publikum die letzte Chance, verpasste Highlights aus dem brut-Programm noch einmal zu sehen, und das zu einem unglaublichen Aktionspreis, der das Herz eines jeden Schnäppchenjägers höherschlagen lässt.
Wiener Festwochen 2012 im brut
Das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen 2012 versucht eine „Anatomie der Krise“: mit den subjektiven Befunden nicht mehr möglicher Lebensformen in zunehmend segregierten Gesellschaften, mit den fatalen Ausgrenzungsfantasien aus Angst vor sozialem Abstieg, mit kommenden und vergangenen Revolten. Im und mit dem brut manifestieren sich diese Themen an zwei Enden: Zum einen zeigen die Wiener Festwochen hier neues Autorentheater aus Lateinamerika, zum anderen produziert das forum festwochen ff gemeinsam mit dem brut die Uraufführung von Oleg Soulimenkos Made in Austria im Donauturm.
Eine Generation junger AutorInnen, RegisseurInnen und Gruppen prägt seit einigen Jahren nachhaltig die Theaterszene Lateinamerikas – KünstlerInnen, die erst nach der „bleiernen Zeit“ der Diktaturen und Gewaltexzesse in ihren Heimatländern aufgewachsen sind, ohne die Erfahrung des Widerstands, ohne Verfolgung, Anpassung und Protest, Täter- und Opferschaft. Sie erforschen ihre Herkunft, die Biografien, Motivationen und Lebensbrüche ihrer Eltern, ebenso wie eigene, zeitgenössische Möglichkeiten von Artikulation und Widerspruch. Lola Arias aus Buenos Aires, die ihr neues Stück Melancolía y manifestaciones zu Beginn der Festwochen zur Uraufführung bringen wird, stand mit dem Titel ihrer letzten argentinischen Produktion, Mi vida después (Mein Leben danach), auch Pate für den Titel des gesamten Lateinamerikaprogramms La vida después. Außerdem kommen Villa + Discurso von Guillermo Calderón aus Chile und die Gruppe Lagartijas tiradas al sol aus Mexiko mit El rumor del incendio ins brut. Als Außenspielort fungiert das Palais Kabelwerk, das das Publikum mit der kolumbianischen Trilogie Sobre algunos asuntos de família von Jorge Hugo Marín und seiner Gruppe La maldita vanidad durchwandert. Das forum festwochen ff beschäftigt sich heuer in drei internationalen Positionen und drei Uraufführungen von Wiener Produktionen – von God’s Entertainment, Alexander Nikolic und Oleg Soulimenko – mit dem aktuellen Zauberwort der politischen Mitte: Integration. Das bemäntelt die Tatsache, dass zwei Drittel der Welt von der Teilhabe an ebendieser Mitte ferngehalten werden, und gaukelt uns vor, dass diese Ausgrenzung dauerhaft folgenlos bleiben kann. Oleg Soulimenkos Made in Austria porträtiert erfolgreiche IntegrantInnen: MigrantInnen in Wien, die „es geschafft“ haben, die Erfolg haben in Österreich. Sie erzählen im drehenden Donauturm-Café in Tischgesprächen von ihrem Weg – und von ihrem Blick auf die Welt, auf die hiesige wie die weite und ferne. Weitere Infos unter www.festwochen.
Der Jahresthemenschwerpunkt Green Rules erreicht im Frühsommer seinen vorläufigen Höhepunkt: united sorry setzen ihre Green Conversations genannten Salons im Grünen im Mai mit einem gepflegten Happening im Türkenschanzpark und anschließendem Gelage im TÜWI-Beisl fort. Sie beschwören den Frühling und zelebrieren künstlerische wie auch politische Anfänge und Aufbrüche.
Im Juni wird dann im Rahmen des Unplugged-Festivals Up to Nature die Vogeltennwiese im Wienerwald zur brut-Bühne für Outdoor-Performances. An drei Tagen zeigen KünstlerInnen aus Wien und Europa Produktionen, die sich mit dem Lebensraum Wald und dem Naherholungsgebiet am Stadtrand als Grenzbereich zwischen urbaner Kultur und kultivierter Natur auseinandersetzen. Zur Eröffnung des Festivals fällt Antti Laitinen, bildender Künstler aus Finnland, auf der Vogeltennwiese einen Baum, den er im Verlauf des Festivals in seine Einzelteile zerlegt, um ihn dann wieder zusammenzusetzen und schließlich als Skulptur an seinem ursprünglichen Standort wieder aufzustellen. Das britische Live-Art-Duo FrenchMottershead gestaltet gemeinsam mit Wiener ExpertInnen des Waldes interaktive Workshops, in denen das theoretische Wissen um die Eigenarten des Orts in praktische, erfahrbare Erlebnisse verwandelt wird. Nic Green aus Schottland konstruiert eine Behausung, in der sie mit dem Publikum dem vermeintlich natürlichen Wald seine unvermuteten Geheimnisse entlockt. Die Wiener Künstlerin Johanna Kirsch hingegen richtet sich im Geäst ein, um in ihrer Performance My Name Is Ape or The Little Tree Theatre den evolutionären Schritt des Menschen vom Baum herab den revolutionären Momenten, in denen er wieder hinaufsteigt, gegenüber-zustellen. Auch der fröhliche Berliner Konzeptchoreograf Martin Nachbar nimmt sich den Animismus zur Brust und wird in Animal Dances zur Blattlaus, zum Schoßhund oder zum röhrenden Hirsch. In eine entrückte Welt voller Zwischenwesen, Geister und süßem Schauder entführen Ingri Fiksdal, Ingvild Langgård und Signe Becker aus Oslo das Publikum auf einen nächtlichen Parcours. nadaproductions zeigen eine Unplugged-Version ihrer aktuellen Performance NATURE, und für die Intensivierung all dieser Erfahrungen sorgen united sorry/Frans Poelstra & Robert Steijn als Fabelwesen in Stöckelschuhen.
Freilich wird an diesen Tagen auch die Bar brut deluxe eine Open-air-Filiale errichten, um sicherzugehen, dass die Konzerte von Owl & Mack oder Loose Lips Sink Ships zu nächtlicher Stunde unberechenbare Wirkungen entfalten.
Up to Nature ist ein Festival für alle, denen im Sommer der Schanigarten zu eng, das Theater zu dunkel und die Berghütte zu trostlos ist.
Das Festival tourt im Verlauf des Sommers nach Bristol (29. Juni bis 1. Juli), Oslo (24. bis 26. August) und Kuopio (28. bis 30. September), wo die Produktionen den jeweiligen örtlichen Bedingungen angepasst werden. „Because nature is our wilderness, but nature’s wilderness is us.“ Helen Cole, Künstlerische Leiterin Inbetween Time, Bristol
Dass Gemeinschaft arbeiten und im besten Falle auch funktionieren kann, will brut in den kommenden Wochen mit dem doppelsinnigen Themenschwerpunkt Community works! zeigen. Theater geraten immer stärker unter Rechtfertigungsdruck und müssen jenseits etablierter Strukturen neue Publikums- und TeilhaberInnenschichten erschließen, nicht zuletzt um damit die eigene „Diversität“ zu pushen. brut versteht sich seit seinen Anfängen als integratives Haus und arbeitet nicht ohne Grund international und grenzüberschreitend. Trotzdem behält brut mit Themenschwerpunkten wie Community works! den Blick auf die unmittelbaren NachbarInnen und lokale Gemeinschaften. Möglich wird das mit ortsspezifischen und partizipatorischen Projekten und in enger Zusammenarbeit mit Communitys wie der queeren Szene Wiens, mit der brut einen großen Teil seines Programms entwickelt. Also: Community works! Aber dranbleiben und weitere neue Beziehungen knüpfen ist angesagt.
Zum Auftakt des Themenschwerpunkts stellen die international bekannte Künstlerin Nadia Ross und ihre Kompanie STO Union ihre Arbeit vor. Ross, die sich selbst vom Zentrum an die Peripherie zurückgezogen hat, erlaubt sich im geschützten Raum der kleinen Gemeinde Wakefield jenseits künstlerischer Selbstüberbietung und in einem direkten, unmittelbaren Arbeitsprozess mit den dort lebenden EinwohnerInnen, neue Formen der Zusammenarbeit zu testen. Nicht das fertige Kunstprodukt steht im Vordergrund, sondern die gemeinsame Arbeit an der Darstellung der Inhalte. STO Union stellt in Wien zwei Projekte vor, die unter dieser Voraussetzung entstanden sind: Die neue Arbeit Intimacy with a Thousand Things wird in Wien fortgesetzt und in einem Work-in-Progress-Showing gezeigt. Daneben erarbeitet STO Union gemeinsam mit im Wohnpark Alt-Erlaa lebenden Menschen einen sehr persönlichen Abend über Grenzerfahrungen und gleichzeitig ein Porträt dieses speziellen sozialen Wohnungsprojekts in Wien. Auch das Wiener Kollektiv God’s Entertainment setzt heuer seine Arbeit mit Communitys fort. Es zeigt eine Weiterentwicklung seiner in Berlin entstandenen Arbeit MESSER-MORD: KLINGE STECKTE NOCH IN DER BRUST (NACH BÜCHNERS „WOYZECK“), die es gemeinsam mit Haftentlassenen aus Berlin und Wien erarbeitet. Jenseits von rein dokumentarischem Theater entstehen hier im Laufe des Abends Collagen des Lebens ehemaliger Strafgefangener von der Straftat über die Haft bis zur Resozialisierung. Das Kollektiv tat ort wiederum plant gemeinsam mit SchülerInnen polytechnischer Lehrgänge und Berufsschulen eine architektonisch-künstlerische Intervention, mit der sich brut in den Sommermonaten ganz bildlich in die Stadt und auf den Karlsplatz öffnet. Im Mai zeigt Oleg Soulimenko gemeinsam mit den Wiener Festwochen im rotierenden Donauturm Made in Austria, eine Performance mit Menschen aus verschiedenen Ländern und mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, die es in Österreich „geschafft“ haben. Ein Kommentar jenseits der Problematisierung sozialer Randgruppen, der zeigt, wo die neue sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ liegt.
Das Festival imagetanz versammelt im März 2012 lokale und internationale KünstlerInnen aus dem Bereich Choreografie und Performance. In jedem Jahr wird der Festivaluntertitel um einen neuen Begriff erweitert, der auf aktuelle gesellschaftsspezifische Entwicklungen und Themen, die die KünstlerInnen in ihren Projekten aufgreifen, Bezug nimmt. Als lockere Klammer hält er das Festival inhaltlich zusammen. Das heurige Motto Arbeit setzt ganz direkt an gegenwärtigen Diskussionen an. Finanz- und Marktmechanismen durchdringen mehr und mehr indirekt und schrankenlos das Individuum, das Arbeit als den „selbstverständlichen Zweck aller Anstrengung“ (Harald Welzer) empfindet und die Aufteilung des Tages in Arbeit und Regeneration als völlig normal betrachtet. Entsprechend ist der Alltag des Einzelnen sehr konkret und sehr direkt von Arbeit geprägt. An diesem Punkt hakt das Festival ein, um den Kreislauf zu durchbrechen. Arbeit wird bei imagetanz 2012 im Sinne einer Wiederaneignung von Handlungsmöglichkeiten verstanden. Kurz gesagt: Nicht mehr, sondern anders arbeiten!
So legt das mysteriöse Kollektiv Inferno das Handwerk der Performance im Rahmen von Opening offen, orientiert sich der aus Singapur stammende Künstler Daniel Kok direkt an den KonsumentInnen, indem er seine Arbeit auf der Basis von Onlinefragebogen-Ergebnissen entwickelt. Krõõt Juurak öffnet in Presentation ihren performativen Werkzeugkasten, der sie das letzte Jahrzehnt lang begleitet hat. Dann wird es ultimativ praktisch: Andrea Maurer & Thomas Brandstätter schweißen, hämmern und sägen, Lieve De Pourcq produziert und verarbeitet Bilder mit Beamer, Dia- und Overheadprojektor. Lea Martini und Rodrigo Sobarzo de Larraechea hingegen stützen ihre Performance darauf, dass Tanz immer wieder Reaktion auf Krisen war. Während des gesamten Festivals tagen neun KünstlerInnen aus der Türkei, den Niederlanden, Großbritannien und Österreich im Rahmen des EU-Projekts Europe in Motion im Kunstraum Bernsteiner. Begleitet vom Choreografen Jonathan Burrows und dem bildenden Künstler und ehemaligen Broker Gerald Nestler reflektieren sie die eigenen Arbeiten und darüber hinaus die Essenz gegenwärtiger Probleme – im Besonderen das Wirtschafts- und Finanzwesen. Krise und Apokalypse hin oder her, Musik (Magdalena Chowaniec) und Reflexion von Geschlechterrollen (Andros Zins-Browne, Deborah Hazler/Nanina Kotlowski/Kerstin Olivia Schellander) wird auch in diesem Jahr Platz eingeräumt. Florentina Holzinger und Vincent Riebeek nehmen mit Kein Applaus für Scheiße Anleihen bei Ann Liv Young, Jeremy Wade und Ivo Dimchev, und so viel kann gesagt werden: Der Applaus ist ihnen sicher. So auch der spanischen Künstlerin Cuqui Jerez, die derzeit als internationaler Shootingstar gehandelt wird und durch ganz Europa tourt. Bei imagetanz 2012 zeigt sie eine für Wien neu entwickelte Produktion. Nach getaner Arbeit macht die Abschlussparty unter dem Titel Love for Gold Sorgen wie „Vielleicht doch noch schnell alles in Gold anlegen?“ vergessen.
Doris Uhlich, die in kürzester Zeit zu einer der gefragtesten österreichischen Choreografinnen avancierte, ist so eng wie kaum eine andere Künstlerin mit brut verbunden. Ihre ersten eige¬nen Projekte feierten beim Festival imagetanz 2006 und 2007 große Erfolge. Schon damals stand außer Frage, dass Uhlich eine ganz außergewöhnliche Choreografin ist, die auf eine sehr persönliche Weise politische Themen in ihren Arbeiten aufwirft. Seither hat sie einen großen Teil ihrer Performances mit brut entwickelt und tourt weltweit. Nach fünf Jahren der Zusammenarbeit ist es an der Zeit, zurückzuschauen und in einer Werkschau den Blick auf die zentralen Arbeiten zu richten. Der fröhliche Uhlich-Reigen eröffnet mit SPITZE (2008). In dieser Auseinandersetzung mit dem klassischen Tanz trifft Uhlich auf Harald Baluch und Susanne Kirnbauer, einst Erste Solotänzerin der Wiener Staatsoper. Während SPITZE die normierenden Beschränkungen im klassischen Ballett thematisiert, fragt sich Uhlich in mehr als genug (2009), ihrem vielleicht persönlichsten Stück, wie ein Körper zum Markenzeichen werden kann. In Uhlichs Produktionen geht es dabei oft um die besonderen Gesten des Alltags, um die jeweils ganz persönliche Tanzsprache ihrer Gäste. So hat sie sich mit ihrer einmaligen Recherchearbeit und (2007) auf die Suche nach den Spuren und Mustern begeben, die ein Leben am Körper hinterlässt. Für die Wiederaufnahme des Stücks unter dem erweiterten Titel und jetzt kommen die einstigen DarstellerInnen wieder zusammen und testen aus, was von damals noch geht und wohin das geführt hat. Aus dem Prozess des sich in den alternden Körper einschreibenden Lebens wird in der erstmals im brut gezeigten Performance Uhlich (2011) ein Blick in die eigene Zukunft: In der bei den Wiener Festwochen 2011 uraufgeführten Produktion steht die Mutter, Gertraud Uhlich, stellvertretend für die Künstlerin auf der Bühne – als Prognose auf die eigene Körpersprache und Gestik in 30 Jahren. Und schließlich darf in dieser Reihe die Erfolgsproduktion Rising Swan (2010) nicht fehlen.
Die Vorstellungen werden von einer analysierenden Gesprächsrunde mit Milli Bitterli, Susanne Kirnbauer und Doris Uhlich, einem Vortrag der Theaterwissenschaftlerin, Autorin und Uhlich-Kollaborateurin Judith Staudinger und einer Videodokumentation von Johannen (2009) gerahmt. Um das Programm komplett zu machen, zeigt brut darüber hinaus eine von Uhlichs allerersten Arbeiten: Impatiens walleriana (2007), in der es um Nachwuchs in der Botanik, aber auch im Theaterbetrieb geht und somit auch um den Weg, den Uhlich selbst beschritten hat. Neben dem Rückblick auf fünf Jahre Uhlich wagt Alexander Schellow mit der Installation Back Ground 01 bereits einen ersten Ausblick auf die derzeit entstehende Produktion Come Back. Und für alle, die endlich einmal selber mitmachen wollen, bietet Doris Uhlich zum Abschluss dieser Personale einen offenen Workshop an, in dem jeder selbst zum Pop-Swan werden kann. Alles tanzt? Alles Uhlich!
Im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms sind unter dem Titel Baltic Games im Jänner fünf internationale Produktionen aus Finnland, Schweden, Russland und Estland im brut zu Gast. Das finnische Baltic Circle Festival nimmt schwerpunktmäßig die Performance- und experimentelle Theaterszene der Ostsee-Anrainerländer ins Visier und gilt als eine der wichtigsten Adressen für Neuentdeckungen aus dem baltischen Raum. Mit dem Festival ist es gelungen, eine kulturelle Brücke zwischen West- und Osteuropa zu schlagen. Für das baltische Showcase im brut wurden Performances und Projekte ausgewählt, die auch inhaltlich und formal mit dem brut-Programm korrespondieren, wobei die Bühnenformate vom dokumentarischen Theaterabend über feministische Party- und Konzertperformances, ortsspezifische Arbeiten bis hin zum Spiel mit der Zukunft der Welt reichen. Für Letzteres zeichnet YKON, eine Gruppe bildender KünstlerInnen aus Helsinki, verantwortlich, die mit dem YKON Game ein Planspiel entwickelt hat, das mit der politischen und sozialen Fantasie der MitspielerInnen arbeitet. In diesem Projekt gibt es nur aktive MitspielerInnen, keine passiven ZuschauerInnen. Während im YKON Game die Zukunft neu erfunden wird, ziehen sich Juha Valkeapää und Taito Hoffrén aus Helsinki mit ihrer minimalistischen Performance 10 JOURNEYS TO A PLACE WHERE NOTHING HAPPENS in ein Zelt zurück und erzählen bei Kaffee und Pfannkuchen auf sehr humorvolle, charmante und musikalische Weise vom nordischen Lebensgefühl: Tristesse, Weite, Leere und alltägliches Leben. Zu Beginn und zum Abschluss der Baltic Games laden das ÖFA-kollektivet und die beiden Künstlerinnen Riina Maidre und Maike Lond aus Tallinn zu Performances ein, die sich im Grenzbereich von Party bzw. Konzert und Performance für die Bühne bewegen. ÖFA ist eine Gruppe von schwedischen Künstlerinnen aller Genres, die hierarchiefrei und gleichberechtigt kollektive Arbeiten realisieren. Sie ist auf die performative Gestaltung von Partyevents spezialisiert, in denen das Publikum auf äußerst humorvolle Weise zum Protagonisten des Abends wird. Die Estländerinnen Lond und Maidre zeigen in ihrer am ehesten als postfeministische Konzertperformance zu bezeichnenden Bühnenshow PostUganda einen energiegeladenen, lustvollen Abend, der sich an Popreferenzen bedient, um Frauenklischees ironisch, selbstironisch und kritisch auf den Prüfstand zu stellen. Im Kontext der Baltic Games bildet die Produktion Two in your House des Moskauer teatr.doc die politisch brisanteste Arbeit im Programm. Die Gruppe hat einen Dokumentartheaterabend entwickelt, der anhand eines konkreten Beispiels von der politischen Verfolgung oppositioneller KünstlerInnen durch den staatlichen Geheimdienst in Weißrussland berichtet. Als Teil des Austauschs präsentierte brut im November 2011 mit drei brut-Produktionen und einer Clubnacht ein Showcase beim Baltic Circle Festival in Helsinki.
„Video gehört auf jede Bühne!“, skandierte eine Darstellerin den ganzen Abend lang in Christoph Schlingensiefs legendärer Inszenierung Kunst und Gemüse, A. Hipler – Theater A.L.S. Krankheit. brut startet im Herbst unter diesem Titel einen Themenschwerpunkt zum oft schwierigen und lustvollen Verhältnis von Theater und Film. Nachdem der Einsatz von Film und Video auf der Bühne schon fast alltäglich geworden ist, stellt sich die Frage, wo jenseits dekorativen Wirkens noch neue Formate aus der Kombination beider Medien entwickelt werden können. Elf Produktionen und Projekte im Themenschwerpunkt erschließen vom 16. September bis 26. November 2011 eigene künstlerische Wege für die Verwendung von Film und Video auf der Bühne.
Den Auftakt zum Themenschwerpunkt macht Gin/i Müller mit der Wiederaufnahme der Produktion Who shot the Princess? Boxstop Telenovelas, die am Umschlagpunkt von Melodrama zu Militanz operiert. Ein begleitendes dreitägiges Symposium bestimmt unter dem Titel Melodrama und Rebellion das Verhältnis von Melodrama und Politik, Gender und Kunst neu. Mit ihrer aktuellen Produktion Before Your Very Eyes präsentieren die Videopioniere von Gob Squad Ende September eine Liveshow „mit ECHTEN Kindern“ und deren Leben im Schnelldurchlauf. Im Oktober besetzen God’s Entertainment das brut im Konzerthaus für zehn Tage, um ein temporäres Filmstudio einzurichten. Wie das Zusammenspiel von Architektur, Kamera, Choreografie und Liveauftritt definiert werden kann, lotet artificial horizon/Milli Bitterli in Was bleibt? aus. An der Grenze von Tanz und Film bewegt sich auch Doris Uhlich, die eine Skizze im und für das Stadtkino Wien entwirft. Wie Theater ganz ohne LiveperformerInnen auskommen kann, zeigt die Gruppe Berlin mit dem außergewöhnlichen filmischen Stadtporträt Bonanza.
Anfang November vertont Lisa Kortschak mit verschiedenen Bandkonstellationen erneut den Stummfilm Meshes of the Afternoon von Maya Deren und Alexander Hammid und zeigt, welche Wirkung unterschiedliche musikalische Liveinterpretationen auf ein und denselben Film haben können. Diederik Peeters macht zum Abschluss des Schwerpunkts in Red Herring die suggestive Kraft der Klangkulisse im Film zum Gegenstand der Performance. Der legendäre Videopionier Chris Kondek sucht in seinem fiktiven Dokumentartheaterabend nach einem verschollenen Filmemacher bis sich dessen Spuren in Kuba vollends verflüchtigen und die Performer sich alleine wiederfinden. Kondek wird außerdem in einem KünstlerInnen-Workshop nach der Darstellbarkeit des Erhabenen in Video und Film forschen. Einen Abend lang kon¬frontieren Studierende der Klasse für Kunst und digitale Medien der Akademie der bildenden Künste Wien ebenfalls die Medien Video und Performance miteinander. Und auch Die Rabtaldirndln haben im letzten Sommer einen Film gedreht. Die Dreh-arbeiten mussten allerdings unfreiwillig abgebrochen werden, weil die vermeintlich echten Raabtal Dirndln, eine volkstümliche Musikgruppe aus der Steiermark, klagten. Jetzt kann der Film nur noch auf der Bühne zu Ende erzählt werden. In Angela Richters Drogenelegie Berghain Boogie Woogie kann man sich schließlich gar nicht mehr sicher sein, ob man nun in einer Theateraufführung, im Kino oder vielleicht sogar in einem hippen Club sitzt. Dieses Spiel mit der ungewöhnlichen Kombination der Elemente Video und Bühne zielt auf Veränderungen der Wahrnehmung ab und sorgt am Ende für spannende Konfrontationen und unerwartete Überraschungen.
Bereits zum dritten Mal laden brut Wien, DSCHUNGEL WIEN und Schauspielhaus Wien zum Saisonende von 22. bis 26. Juni 2011 zum Showcase Alles muss raus! ein. Innerhalb von fünf Tagen bieten 23 herausragende Produktionen einen Rückblick über die durchaus divergenten, gegenwärtigen Positionen der Wiener Theater- und Performanceszene – zum sensationellen Sonderpreis von 4,99 Euro pro Stück. Das Festival lockt jedes Jahr Wiener Publikum und internationale Gäste an. Als erste österreichische Plattform lenkt das Showcase die Aufmerksamkeit auf die nachrückenden KünstlerInnen-generationen des Landes. Eröffnet wird Alles muss raus! am 22. Juni um 18.30 Uhr mit einer Notversteigerung im NOTSTAND (Performance/Installation von Barbara Ungepflegt) auf dem Vorplatz von brut im Künstlerhaus. Die Eröffnungsparty Top oder Flop, eine Plattenauktion der besondern Art, startet dann ab 22 Uhr in der Bar brut deluxe, diesmal: TechnikerInnen Spezial – Hart, aber herzlich.
Im brut stehen sechs Produktionen zum Verkauf: Vor dem brut erklimmt Barbara Ungepflegt täglich ab 19 Uhr ihren multifunktionalen Hochstand des Notstands, der Rückzugsort, Podium und Depot zugleich ist. Zum vorerst letzten Mal kehrt Doris Uhlich am 22. und am 24. Juni 2011 mit ihrer umjubelten Performance Rising Swan zurück an den Karlsplatz. Zachary Oberzan steigt am 23. und am 24. Juni 2011 in Your brother. Remember? erneut mit seinem Bruder Gator in den Ring. An den Abenden des 25. und 26. Juni 2011 begeben sich notfoundyet auf die Suche nach PERFECT HAPPINESS, und Michikazu Matsune zeigt die bewegende Performance ZEICHENSTURM, die sich mit den Kulturen der Hörenden und Nichthörenden beschäftigt. Mit dabei ist am 25. Juni 2011 auch der erste queere Burlesque-Club Wiens CLUB BURLESQUE BRUTAL: Frau Professor La Rose lädt für unglaubliche 9,99 Euro zu einem Best of der vergangenen zwei Jahre.
brut im Künstlerhaus & brut im Konzerthaus
Das Schauspielprogramm der diesjährigen Festwochen beschäftigt sich mit den Rändern der Welt in klimatischer und sozialer Hinsicht und mit den Überlebensstrategien in prekären Verhältnissen überall dort, wo Grundrechte eines sozialen Lebens nie ankamen oder heute und in der Zukunft entzogen werden. Im brut zeigen die Festwochen sechs Positionen junger internationaler KünstlerInnen, die unterschiedliche soziale Realitäten zwischen Tokio, Bogotá, Beirut und Essen in ihren jeweils besonderen Formenwelten verarbeiten und imaginieren. In Japan explodiert seit einigen Jahren eine Szene junger KünstlerInnen, PerformerInnen und TheatermacherInnen. Sie bezeichnen sich als eine verlorene Generation, die keine Zukunftschance hat, sich aber zu konformem Verhalten verpflichten soll.
Mit Toshiki Okada und Daisuke Miura kommen zwei herausragende Vertreter dieser Tokioter Szene nach Wien. Flankiert werden deren Aufführungen von einem Stadtprojekt Akira Takayamas im Resselpark: ein Tag und Nacht geöffnetes Internet- und DVD-Café, in dem täglich neue Filme entstehen, Überraschungstouren und Obdach für Gestrandete angeboten werden. Zum Japan- Schwerpunkt gibt es ein Festwochen-Gespräch Zeitgenössisches Theater aus Japan am 30. Mai 2011, 18 Uhr in der Festwochen Lounge im Looshaus. Das Mapa Teatro ist eine der aufregendsten und vielseitigsten Gruppen in Kolumbien, die soziale Recherche mit hoher spielerischer Theatralität verbindet: Angesichts staatlich gestützter Gewaltstrukturen entstehen in Los Santos Inocentes verstörende Rituale der Kompensation. Dazu zeigen zwei Installationen des kolumbianischen Künstlers Carlos Motta erhellend und frappierend, wie groß die Skepsis der Südamerikaner gegenüber dem von Europa und den USA so selbstbeweihräuchernd in Anspruch genommenen Begriff der Demokratie ist. Die in Beirut lebenden Künstler Rabih Mroué und Lina Saneh verhandeln in Photo-Romance den Bürgerkrieg und das Private. Die vor zwei Jahren von beiden entwickelte Arbeit erhält durch die jüngsten Ereignisse in Nordafrika, und im Nahen und Mittleren Osten eine zusätzliche Dimension.
Die Wiener Festwochen weisen in diesem Zusammenhang auf eine andere Festwochen-Produktion hin: In Scratching on Things I Could Disavow, einer imaginären Ausstellung und Performance, beschäftigt sich der ebenfalls aus Beirut stammende Künstler Walid Raad mit dem Verschwinden von Kunst und Kunstgeschichte durch permanente Gewalt in den arabischen Ländern (ab 26. Mai 2011 in der Thyssen-Bornemisza Art Contemporary). Was passiert, wenn einer ganzen Region die soziale und ökonomische Zukunft entzogen wird? Im Rahmen der Reihe forum festwochen wird mit tagfish eine bizarre Überlebensstrategie in Form einer fingierten Zukunftskonferenz von der belgischen Künstlergruppe Berlin gezeigt. Ihre Arbeiten sind raffinierte Videoperformances, in denen kein Performer live auftritt, aber viele Menschen zu erstaunlichen Performern werden.
„Das Theater ist ein Haus in der Stadt.“ Diese lakonische Feststellung ist der Arbeitstitel einer Auseinandersetzung des Berliner Choreografen Martin Nachbar mit dem Weg des Publikums zum Theater. Hinter diesem vordergründig schlichten Statement türmt sich ein großer Berg an Fragen auf, die weit über die Bühne hinaus in das öffentliche Leben hineinragen: Welche Funktion hat das Theater heute für eine Stadt? Welche Bedeutung hat es für die Organisation von Öffentlichkeit? Welche Formen der Darstellung im zunehmend heterogenen Gefüge urbaner Öffentlichkeit genießen heute Glaubwürdigkeit?
Die Projekte im Themenschwerpunkt BACKSTAGE stellen sich dem Begriff „Theater“ und dessen vielfältigen Deutungsmöglichkeiten keineswegs in Form einer selbstgefälligen Nabelschau. Es geht vielmehr darum, das politische Potenzial des etwas angestaubten Begriffs „Theater“ abseits der auch heute immer noch übermächtigen Repräsentationskultur aufzuspüren. Ende April startet die Reihe mit 37 Jahre zu spät – Die Show. Andrea Salzmann und Julia Kläring bringen mit dieser Show ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte der Performance zum Abschluss und begeben sich auf die Spuren einst radikaler Performancekunst und ihrer Implikationen für die Gegenwart. Fortgesetzt wird der Schwerpunkt im Mai 2011 mit drei Produktionen, die sich dem Thema auf sehr unterschiedliche Weise nähern. Ab 2. Mai 2011 stellt der erfahrene „Walkman“ Martin Nachbar die Ergebnisse seiner neuesten Forschungen vor. In einem Workshop und einer Lecture-Performance berichtet er von seiner Auseinandersetzung mit dem Weg zum Theater und den damit verbundenen Erwartungen. In der One-Woman-Show 60 Minutes of Opportunism von Ivana Müller steht die Performance auf der Bühne zur Debatte. Müller agiert in einer Doppelrolle als Autorin und Performerin zugleich und zeichnet den schmalen Grat künstlerischer Autorschaft zwischen Publikum, AutorIn und PerformerIn nach. Sie geht alltäglichen Lebenslügen ebenso auf den Grund wie der Unmöglichkeit, auf der Bühne das „Auf-der-Bühne-Sein“ zu reflektieren. BACKSTAGE schließt mit der programmatisch TEATRO betitelten Performance von nadaproductions ab. Die Gruppe dekliniert die Mittel des Theaters – vom Synchronsprechen bis zum Chor, vom Sprechtheater bis zum medial aufgerüsteten Gegenwartsstück – durch und entziffert die vielen Bedeutungen, die der Begriff „Theater“ haben kann.
Rückzug ins Öffentliche
Neues aus Theater, Performance und Live Art
Freischwimmer 2011 hat junge KünstlerInnen eingeladen, schillernde Pfosten ins Silbrig-Graue des privat-öffentlichen Einerleis zu rammen. Mit der Verflüssigung des Übergangs von Privatem und Öffentlichem irgendwann Ende des letzten Jahrtausends wurde es plötzlich möglich, die starren Grenzen des heimischen Sofas auf digitalem Wege zu durchbrechen. Die Welt wurde zur überdimensionalen Häkeldecke, an deren unförmiger wie rasender Erweiterung sich jeder beteiligen kann. Sieben internationale Performance-, Theater- und Live-Art-Projekte setzen die erfolgreiche Festivalreihe fort und begegnen den Gefühlen persönlicher und gesellschaftlicher Indifferenz und Einflusslosigkeit mit exemplarischen Landgewinnungsversuchen.
Mit ihrem NOTSTAND verpasst Barbara Ungepflegt brut einen spektakulären Erweiterungsbau. In sechs Metern Höhe bietet ihre Notstandsbestandsaufnahme beste Aussichten und ein exquisites, auf das Notwendigste spezialisiertes Unterhaltungsprogramm. Das polnisch-österreichische Performance-Label mariamagdalena macht das Private öffentlich und feiert mit dem Publikum eine polnische Hochzeit. Zwischen deftigem Essen und Disco Polo wird getanzt, gesungen und getrunken, Bis dass der Tod uns scheidet. In Furry Species vermittelt Corinna Korth als Vertreterin des Instituts für Hybridforschung Einblicke in Leben und Kultur von Mischwesen zwischen Tier und Mensch. Konsequent auf den Hund zu kommen wird hier zur Aufgabe der plastischen Chirurgie. Laura Kalauz und Martin Schick betreten in ihrem CMMN SNS PRJCT das unendliche Feld insgeheimer Gewohnheiten und Konventionen und suchen nach Zwischenräumen im sozialen Beziehungsnetz. ROMANTIC AFTERNOON * von Verena Billinger & Sebastian Schulz ist eine exzessive Ausdrucksmaschine zwischen Scham, Voyeurismus und Abwehr, in der die privateste Geste überhaupt, der Kuss, inszeniert und choreografiert wird. Königliche Staatsbesuche sind hemmungslos zelebrierte Großereignisse. Freischwimmer 2011 erwartet dementsprechend ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn Ihre Hoheit Chuck Morris in souvereines zur Audienz lädt mit glänzenden Attributen und zitterndem Weiberspeck. Nicht minder ereignishaft sind die privat-öffentlichen Selbstinszenierungen von Muammar al-Gaddafi. Lovefuckers bemächtigen sich in KING OF THE KINGS Gaddafis umstrittener Inszenierungskunst, um zu lernen, wie man aus Afrika ein sozialistisches Königreich und aus sich selbst eine Pop-Ikone macht.
Als Freischwimmer Special wird in Wien die Siegerproduktion des bestOFFstyria Festivals 2010 Your Majesties gezeigt. Alex Deutinger und Marta Navaridas reinszenieren Barack Obamas legendäre Rede anlässlich der Friedensnobelpreis-Verleihung. Gibt es einen Rückzug ins Öffentliche?
Festival für Choreografie, Performance und Effekt
Nachdem sich das Festival im letzten Jahr dem Format der Party verschrieben hat, stellt das diesjährige imagetanz-Festival den Effekt in den Mittelpunkt. Soziologie und Psychologie kennen eine Reihe von Effekten, die zahlreiche Alltagsphänomene beschreiben. Beispielsweise den Begründungseffekt: „Offenbar reagieren Menschen enorm auf Begründungen beziehungsweise auf das Wort ‚weil‘. Selbst wenn eine Begründung tautologisch und fadenscheinig ist, machen Menschen, was von ihnen zuvor verlangt wurde. Und jetzt lesen Sie bitte weiter, weil das gut für Sie ist.“ Im Theater sind es zum Beispiel Special Effects, die Aufsehen erregen, oder Effekthascherei, die als Kritikpunkt angeführt wird. Vor allem aber steckt im Begriff Effekt die Frage nach der Wirkung von Theater, Performance und Choreografie. Aus einem solchen Blickwinkel rücken ästhetische Fragen gegenüber der sozialen und politischen Relevanz von Kunst definitiv in den Hintergrund.
Zum Auftakt des Festivals testen die Superamas in der Eröffnungsnacht den Wohlfühleffekt in ihrer eigens für das Publikum eingerichteten Lounge. Bei Clélia Colonna und Charlotta Ruth dreht sich alles um fanatisches Verhalten. Linda Samaraweerová und Karl Karner arbeiten an der Veränderlichkeit unserer optischen Sinneseindrücke, und auch Thomas Brandstätter und Andrea Maurer verschieben in ihrem handgemachten Kino den optischen Schein. Während bei Marysia Zimpel & Eric Green der Ausgangspunkt ihres Duetts im menschlichen Wunsch, frei zu schweben, verortet ist, werden Jared Gradinger und Angela Schubot von dem obsessiven Bedürfnis angetrieben, um jeden Preis zusammen zu sein. Auch der Erweiterungskompetenz von Choreografie und Performance bleibt das Festival treu: Nathalie Koger lässt Zirkusakrobatik auf zeitgenössische Performance los und Anat Eisenberg, die international als neue Mette Ingvardsen gehandelt wird, stürzt sich in voller Action in mediale Bilderwelten. Ebenso bricht Franziska Aigner mit den Theaterdimensionen und entdeckt unter dem Tanzboden einen unbekannten Kontinent. God’s Entertainment lädt ins Reich der Tiere und Lisa Kortschak zu einer Reise durch alptraumhafte Welten des surrealistischen Films. Zum Abschluss des Festivals kann man bei Less Dress More Fun die Wirkung von des Kaisers neuen Kleidern am eigenen Leib testen oder ausprobieren, ob Kleider noch tatsächlich Leute machen. Last but not least bequatscht Julius Deutschbauer das Festival durchgehend.
brut arbeitet an der Schnittstelle interdisziplinären Kunstschaffens, häufig mit internationalen KünstlerInnen. Bei all dem grenzüberschreitenden Engagement gibt es oft nicht nur sprachliche, sondern auch ästhetische, kulturelle und soziale Differenzen zu überwinden. Der Themenschwerpunkt Untranslatable widmet sich den Grenzbereichen des Übersetzbaren und nimmt solche Arbeiten ins Visier, die sich das Scheitern an der Übersetzung zunutze machen oder in denen erst durch die Übersetzungsleistung eine neue und eigene Ästhetik zum Vorschein kommt. Die flämische Künstlerin Sarah Vanhee sammelte im Rahmen ihres Projekts UNTRANSLATABLES Wörter aus verschiedenen Sprachen, die als unübersetzbar gelten. So etwa das japanische „ozukare-same“, das Dank für eine erschöpfende Arbeit ausdrückt, als Ermutigung zum Durchhalten, vor allem aber auch als Abschiedsfloskel dient. Ist es Zufall, dass ausgerechnet die deutschen Wörter „Fernweh“ oder auch „Feierabend“ sich nicht wörtlich in eine andere Sprache übersetzen lassen? In Vanhees neuester Produktion The C-Project geht es nicht um die Übersetzung von Sprache, sondern um die Übertragung einer Romanhandlung auf verschiedene Realitätsebenen – und die Unmöglichkeit der Unterscheidung dieser Ebenen. Während Fragen des Schreibens und der Illusion verhandelt werden, verschwimmen die Grenzen zwischen Romanwelt und dem sogenannten wirklichen Leben. In der Lecture-Performance Zanahoria, spanisch für Karotte, widmen sich die Performer Diederik Peeters und Hans Bryssinck auf groteske Weise dem zum Scheitern verurteilten globalen Austausch durch künstlerische Projekte. Ein amüsanter Abend über die kulturellen und künstlerischen Grenzen des Übersetzbaren im vielgepriesenen internationalen, interdisziplinären Austausch. Der japanische Wahlwiener Michikazu Matsune, dem Verständigungsbarrieren aus eigener Erfahrung bestens bekannt sind, schaut aus sozialkritischer Perspektive auf das Potenzial von Übersetzungsarbeit: In seiner Produktion ZEICHENSTURM nimmt er sich der sozialen Wirklichkeit der Gehörlosen und der Ästhetik und des Klangs der Gebärdensprache an. An einem Symposiumstag werden Themen rund um Gebärdensprache und Gehörlosigkeit in ihren politischen Dimensionen vertiefend diskutiert.
Geld, Werte und Leistung sind verschiedene Kategorien von Tauschmöglichkeiten. Geld, eine der folgenreichsten Erfindungen der Menschheit, erweist sich als ebenso genial wie zerstörerisch. Wenn man einen Geldschein in die Hand nimmt, die Bankomatkarte benutzt oder eine Überweisung veranlasst, glaubt man, man wüsste, womit man es zu tun hat. Aber der Schein trügt. Nur zwei Prozent der Billionen Dollar, die die Finanzmärkte täglich virtuell um den Erdball pumpen, werden zum Austausch von Waren oder Dienstleistungen verwendet. Wozu der Rest dient, dringt kaum ins öffentliche Bewusstsein. Woher kommen die Milliardenbeträge, von denen keiner sagen kann, wodurch sie gedeckt sind? Wohin gehen die unvorstellbar hohen staatlichen Stützungskredite für Banken und Industriekonzerne? brut widmet den nächsten Themenschwerpunkt dem schnöden Mammon. Als Auftakt fragt die renommierte Kulturtheoretikerin Christina von Braun, die eine große Kulturgeschichte des Geldes herausgegeben hat, ob der menschliche Körper der neue Goldstandard ist. In ihrem Vortrag geht sie auch den biologistischen Termini des Wachstums und Wucherns von Stempeln und Blüten auf den Grund. Joachim Robbrecht versteht seine Produktion Oh Polsko als Allegorie auf das Schicksal polnischer GastarbeiterInnen in Westeuropa: von der Hoffnung, Geld zu verdienen und frei zu sein, und der Farce, dabei zu DienerInnen und DienstleisterInnen zu werden. Der in Wien lebende polnische Performer Cezary Tomaszewski wird in dieser Arbeit selbst zum Gastarbeiter und reflektiert damit auch die prekären Arbeitsbedingungen eines internationalen Kunstbetriebs.
Mit PERFECT HAPPINESS präsentiert notfoundyet die Version einer Welt, in der die Dinge sozioökonomisch und soziopolitisch ganz verkehrt laufen. Gefangen in einer wirtschaft-lichen Realität, in der nicht mehr das eigentliche Produkt, sondern vielmehr ein Stück Lifestyle verkauft wird, ist der Mensch dazu verdammt, selbst zur ultimativen Ware zu werden. Chris Kondek und Christiane Kühl erkennen im Kapitalismus das größte Monster dieser Zeit und zeigen in ihrer Lecture-Performance Money – It Came From Outer Space mithilfe alter Science-Fiction-Thriller: Geld ist ein Alien. Und Theater im Bahnhof erforscht in einer Shopping Mall das Konsumverhalten und den Tod eines Bankomatkartenbesitzers. In einer Mischung aus Hörspiel, Talkshow und Improvisation werden im Vollbetrieb eines Shopping Centers Geschichten von bankomatkartenlosen Konsumenten erzählt. Was sind wir noch wert, wenn wir nichts mehr wert sind?
Wien-Moskau
Nach nunmehr drei brut-Produktionen, in denen sich Oleg Soulimenko mit postkommunistischer Identität popkultureller Prägung auseinandergesetzt hat, wird es höchste Zeit, das Augenmerk des brut-Programms auf Russland selbst zu richten. Auf der Suche nach neuen künstlerischen Positionen aktiviert brut die russischen Netzwerke des Wiener Exilrussen Soulimenko. Dabei ist ein Austauschprojekt entstanden, das gewissermaßen als Gegenentwurf zum Agententausch am Wiener Flughafen im Juli dieses Jahres zu verstehen ist, als in wenigen Minuten zehn russische US-Spione gegen vier Agenten ausgetauscht wurden, die für den Westen spioniert hatten. Im Zentrum des Projekts Music here, Music there stehen gemeinsame Workshops und Produktionen. Ziel ist es, die Kommunikation zwischen Moskauer und Wiener KünstlerInnen zu ermöglichen und Fragen nach Gemeinsamkeiten und Differenzen nicht entlang der hinlänglich bekannten und leicht zu verifizierenden Kulturklischees zu stellen, sondern durch den Austausch im Produzieren kulturelle Spannungsfelder künstlerisch fruchtbar zu machen. Im Gegensatz zum schnellen transatlantischen Spionage-Showdown also gemeinsame künstlerische Arbeiten, die im möglichst unberechenbaren Genre-Crossover entstehen. So wird u. a. der bildende Künstler Markus Schinwald sich mit der Trapezartistin Alexandra Poldi in luftige Höhen schwingen, die Choreografin Anne Juren mit dem Schauspieler Andrey Smirnov die Sprache des Theaters ergründen, die Opernsängerin Jeannie Mayr mit dem Bühnenbildner und Theatermacher Philipp Grigorian dem Pathos frönen, die Video- und Soundkünstlerin Billy Roisz mit dem bildenden Künstler Andrey Kuzkin visuelle Kurzschlüsse schalten, Amanda Piña sich mit Andrei Andrianov duellieren. Neben einem Vortrag, der über die aktuellen Entwicklungen der russischen Gegenwartskunst und deren Rezeption im Westen informiert, wird das Moskauer AktivistInnenkollektiv Voina über Kunstaktionen als politischer Widerstand berichten und Anna Jermolaewa, die bei imagetanz 2010 die legendäre Singleparty ausrichtete, das Geheimnis des echten Borschtsch preisgeben. Die in Wien erarbeiteten Ansätze und Projekte werden im Sommer 2011 an der Dance Agency TsEKh in Moskau weiterentwickelt und die bei brut begonnenen Diskurse unter Einbeziehung lokaler KünstlerInnen und des Moskauer Publikums fortgesetzt.
brut wird Märchenland. Während in klassischen Märchen Gut und Böse klar voneinander getrennt sind und am Ende das Gute siegt und das Böse bestraft wird, besiedeln uneindeutigere Figuren wie glückliche Schwäne, schmutzige Cinderellas und queere Prinzessinnen das brut’sche Märchenland. Zum Auftakt holt Doris Uhlich Anna Pawlowas Sterbenden Schwan in die Gegenwart und verknüpft ihn mit persönlichen Erinnerungen an Aufbrüche und Untergänge: Der Sterbende Schwan wird in Uhlichs Soloperformance zum Rising Swan. Die polnische Künstlerin Katarzyna Kozyra erzählt in ihrer Videoarbeit Summertale eine neue Version von Schneewittchen. Ihr Schneewittchen ist die zwei Meter große Berliner Dragqueen Gloria Viagra, die freundlich von Zwerginnen aufgenommen wird, bis diese ihr „kleines“ Geheimnis entdecken und diese beschauliche Summertale zum wilden Splattermovie mutiert. Die amerikanische Performerin Ann Liv Young verwandelt sich in Cinderella und verursacht Gender-Trouble in Disneyland. Dabei wundert es nicht, dass sich ihre Cinderella schnell aus der Opferrolle befreit und, fasziniert von der weiblichen Macht, gar nicht mehr so sicher ist, ob ihr ein Prinz zum Glück fehlt. Bekanntlich kommen gute Mädchen in den Himmel, böse jedoch überallhin. Auch Gin/i Müller beschäftigt sich in Who shot the Princess? Boxstop Telenovelas mit dem Projektionsbild „Prinzessin“: Inspiriert von lateinamerikanischen Telenovelas und Elfriede Jelineks Prinzessinnendramen erschafft Müller einen Reigen aus klassischen Märchenfiguren, Filmdiven, KünstlerInnen und RebellInnen. Durch den märchenhaft reflexiven Abend führt die mexikanische Soap-Darstellerin Flor Edwarda Gurrola, die in Lateinamerika durch Telenovelas bereits als Kind zum Fernsehstar wurde. Sie wandert durch die Stationen ihrer Schauspielerinnen-Laufbahn in Mexiko und verwandelt sich in unterschiedliche (un)tote Prinzessinnen. Und auch Club Real ist zurück und sucht in Der geliebte Feind. Eine Stadtintervention zur österreichisch-türkischen Wunschbeziehung nach Ursachen für diese besondere Beziehung, die mehr von Träumen und Ängsten als von Realität und Wirklichkeit geprägt ist. Dem verklärten Blick auf den märchenhaften Orient stehen Hass und Ausgrenzung gegenüber. Die literarisch-freundschaftliche Beziehung zwischen Goethe und seinem intellektuellen persischen Zwilling Hafis macht sich Club Real zunutze, um die Feindschaft zum „Anderen“ in eine Liebesbeziehung umzuwandeln.
Es gibt immer was zu erben. Zum Auftakt der vierten Saison widmet brut sich deshalb mit einem Schwerpunkt dem Thema Erbgut. Zehn Jahre nachdem das menschliche Erbgut nahezu voll¬ständig entschlüsselt wurde und die biologistischen Diskurse sich verschärfen, dieses und jenes Gen Fettleibigkeit, Hang zu Kriminalität oder Homosexualität bewirken soll, stellt die in Buenos Aires und Berlin lebende Regisseurin Lola Arias die eineiigen Zwillinge Anna und Esther Becker gemeinsam mit in Wien lebenden Zwillingspaaren auf die Bühne, um dem Rätsel der Identität nachzugehen. Die Aufklärungsrevue That enemy within ist spannendes Theater und Schulstunde zugleich: Wie viel ihrer Persönlichkeit verdanken Zwillinge ihrer genetischen Vorbestimmung, wie prägt die Umwelt sie, und welche Rolle spielt dabei der Zufall?
Ein ganz anderes Erbe tragen die Brüder Zachary und Gator Oberzan, die vor 20 Jahren im Home-Video-Verfahren und mit viel Liebe zum Detail Szenen aus Kickboxer und Faces of Death (dt. Gesichter des Todes) nachgedreht haben. Dieses Videomaterial hat Zachary Oberzan wieder- gefunden und sich nach 20 Jahren entschlossen, am selben Ort und mit derselben Besetzung die Szenen noch einmal nachzudrehen. Beide hatten dieselbe Kindheit, dieselben Talente und Idole, der eine ist im Knast und der andere auf der Bühne gelandet. Die brutproduktion Your Brother. Remember? brachte schon beim Probe-Showing in der brutstätte im letzten Dezember das Publi¬kum zum Lachen und Weinen und gilt zu Recht als Saisonhit der europäischen Theaterfestivals. She She Pop zeigen dann im November mit der King Lear-Adaption Testament ihre verspäteten Vorbereitungen zum Generationenwechsel und werden dazu ihre eigenen Väter auf die Bühne bitten. Das Theater wird zum Verhandlungsraum für einen utopischen Prozess: den Ausgleich zwischen den Generationen. Schmuckstücke, Stammbäume, Erbfolgen, Erbkrankheiten, Liebes¬schwüre, Pflegepläne, Benzinquittungen und Schuldgefühle werden zu Teilen der Verhandlungs¬masse in dieser öffentlichen Gegenüberstellung von Töchtern und ihren Vätern. Testament ist auch eine liebevolle Abrechnung der „Thirtysomethings“, der „Generation Jugend“, mit der 68er-Generation und dem tendenziell schlechten Gewissen, deren Ansprüchen nie gerecht werden zu können.
Zu diesem Themenschwerpunkt gibt es auch eine Sonderaktion: Zwillinge, Geschwister sowie Väter und Töchter kommen bei der jeweiligen Veranstaltung in den Genuss eines „2 für 1“-Tickets! bei der jeweiligen Veranstaltung in den Genuss eines „2 für 1“-Tickets!
Good Night & Good Luck #2
Die im vergangenen Jahr äußerst erfolgreich gestartete Tanznacht findet im Wechsel zwi-schen Tanzquartier Wien und brut Wien statt. Nachdem das Museumsquartier im letzten Jahr Austragungsort dieses Marathons war, geht die Veranstaltung in diesem Jahr am Karlsplatz in die Verlängerung. Zwischen Wien Museum, Karlskirche, Technischer Universität und Künst¬lerhaus gibt es viele Orte, die in dieser Nacht von KünstlerInnen besetzt und bespielt werden. Eine Nacht, die bis in die frühen Morgenstunden zum Flanieren, Entdecken und Erobern der Wiener Performanceszene und des Wiener Karlsplatzes einlädt, denn neben Tanz und Performance steht an diesem Abend vor allem der Karlsplatz im Zentrum. Der Wiener Karlsplatz galt schon immer als urbane Problemstelle, bereits Otto Wagner nannte das Areal keinen Platz, sondern „eine Gegend“. Er ist verkehrstechnisch einer der wichtigsten Punkte Wiens, fünf verschiedene Verkehrsflüsse bilden hier einen Knoten. Täglich überqueren unzählige Menschen den Platz und machen ihn somit zum wahrscheinlich meistfrequen¬tierten Ort Österreichs. Zugleich ist er Naherholungsraum, Parklandschaft und Standort diverser Kunst- und Kulturräume sowie Hochschulen mit insgesamt ca. 20.000 Studierenden.
Der Karlsplatz hat eine lange und bewegte Geschichte hinter sich. Benannt nach Kaiser Karl VI., der während der Pestepidemie der Jahre 1713/14 ein Gelübde ablegte, hier eine Kirche zu errichten, hat er von Anfang an zahllose städteplanerische Auseinandersetzungen und Planspiele über sich ergehen lassen müssen. Der Architekturkritiker Jan Tabor statuierte, dass es für den Platz keine Generallösung geben könne. Jeder, der eine solche zu finden versuche, müsse scheitern. In Österreich selbst ist das Wort „Karlsplatz“ zum Synonym für eine offene Drogenszene geworden. Auch gegenwärtig soll die Karlsplatzpassage ein neues Gesicht bekommen und zum lichten „Wohlfühlraum“ werden. Die Drogenszene soll den Karlsplatz verlassen, und der Karlsplatz soll endlich zur Visitenkarte einer Kulturmetropole werden. Noch bevor der Karlsplatz „modern, hell und freundlich“ wird, bietet die Tanz- und Performancenacht Gelegenheit, in die Unterwelt Karlsplatz abzutauchen. Good Night & Good Luck!
Ein Showcase von brut, DSCHUNGEL und Schauspielhaus Wien
Nach der erfolgreichen Schnäppchenjagd zum Saisonende 08/09 findet der Sommerschlussverkauf in diesem Jahr von 23. bis 27. Juni statt. Denn Alles muss raus! – auch in dieser Spielzeit! An fünf Tagen sind wieder geballt Highlights der letzten Saison zu sehen, und das zum sensationellen Sonderpreis von 4,99 Euro pro Stück. Dieser Schlussverkauf bildet nicht nur einen Abschluss der Saison, bei dem brut Wien wieder gemeinsam mit dem DSCHUNGEL Wien und dem Schauspielhaus Wien einige der herausragenden Produktionen des letzten Jahres zeigt, sondern ist auch Anreiz für internationale Gäste, KuratorInnen, ProduzentInnen und JournalistInnen, diese volle Ladung Wiener und österreichischer Produktionen, die sie in einer sehr kurzen Zeit präsentiert bekommen, hinaus in die Welt zu tragen. Während die österreichische Tanz- und Performanceszene in der Choreographic Platform Austria (CPA) und seit letztem Jahr mit der Tanznacht, die heuer am Karlsplatz stattfinden wird, eine Zusammenkunft gefunden hat, die auch einer nachrückenden KünstlerInnengeneration Aufmerksamkeit weit über nationale Grenzen hinaus garantiert, existierte für Theater keine entsprechende Plattform. Dabei konnten nicht nur durch die Gründung von brut im November 2007, sondern auch durch die Theaterreform der Stadt Wien mit einschneidenden strukturellen Maßnahmen im Fördersystem neue und innovative Impulse im frei produzierten Theater gesetzt werden, die nachhaltige Wirkung zeigen. Die Zeit nach der Gründung von brut hatte eine europaweite Signalwirkung, die große internationale Aufmerksamkeit auf die Wiener und die österreichische Szene lenkte, von der bereits einige KünstlerInnen profitieren konnten. brutproduktionen touren inzwischen weltweit und erhalten Einladungen zu renommierten Festivals, auch dank dieses Showcase. Mit ihm wollen die drei Häuser zu Saisonende mit gemeinsamer Kraft wieder das Interesse im In- und Ausland auf hier entstandene Produktionen lenken.
Alles muss raus! bietet aber auch dem heimischen Publikum die letzte Chance, verpasste
Highlights aus dem brut-Programm noch einmal zu sehen, und das zu unglaublichen
Aktionspreisen, die das Herz eines jeden Schnäppchenjägers höher schlagen lassen.
Wiener Festwochen im brut
Das Programm der Festwochen im brut zeigt Arbeiten und Künstler u. a. aus Argentinien, Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, der Elfenbeinküste und dem Iran, die in ihren speziellen Erfahrungsausschnitten Veränderung und Zukunft einklagen. Eröffnet wird es mit einer gemeinsamen Einladung von brut und Festwochen: In Othello c’est qui zeigt das Künstlerduo Gintersdorfer/Klaßen einen Dialog zwischen einem von der Elfenbeinküste stammenden Tänzer und Schauspieler und einer deutschen Schauspielerin über den berühmtesten Schwarzen der westlichen Bühnen, den in Afrika kaum jemand kennt. In ihrem neuen Stück Me talking to Myself in the Future blickt die kanadische Künstlerin Marie Brassard, die über die Verfremdung ihrer Stimme eine spezifische Bühnensprache entwickelt hat, aus der heutigen und zukünftigen Perspektive in ihre Vergangenheit. Für eine positive Zukunft des Kongo und gegen die Resignation seiner von Krieg und Korruption gequälten Heimat steht der weltberühmte Choreograf, Regisseur und Tänzer Faustin Linyekula und sein szenisches Konzert more more more… future, in dem er die radikale Wut des europäischen Punk mit der lebensfrohen Energie der kongolesischen Popmusik Ndombolo kreuzt. Alle Stereotypen der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Afroamerikanern des heutigen Obama-Amerika entlarvt die koreanisch-amerikanische Dramatikerin Young Jean Lee aus New York mit bösem Witz und Schamlosigkeit in ihrer „black identity-politics show“ THE SHIPMENT. Der iranische Künstler Amir Reza Koohestani reagiert mit seinem nur vordergründig privaten Stück Where were you on Jan 8th?, das ausnahmslos aus Telefongesprächen besteht, auf den Terror von Militär und Polizei bei der Niederschlagung der Protestbewegung in Teheran, die die Hoffnung auf eine liberalere Zukunft zunichte gemacht hat. Der brasilianische Regisseur Enrique Diaz erkundet gemeinsam mit einer Gruppe von Performern, Tänzern und Musikern Rio de Janeiro nach dem Zufallsprinzip zwischen Peripherie und Zentrum – und destilliert mit otro einen Abend über das „andere“ und die anderen in der eigenen Stadt. Sein argentinischer Kollege Daniel Veronese knöpft sich mit seiner kompromisslos zeitgenössischen Ibsen-Adaptation das Gespenst unserer modernen Gesellschaft gleichberechtigter Geschlechter vor und zeigt uns zugleich urargentinische Sinnbilder von abstiegsbedrohten, wohlstandsverlustig gehenden Mittelklasseexistenzen, die sich auf den zweiten Blick als Durchgangszimmer in die Zukunft entpuppen. www.festwochen.at
Das Projekt Performing the Real ist eine Kooperation von brut mit dem Chelsea Theatre London, die bereits im Herbst 2009 begann. Fünf brutproduktionen wurden zu einem Live-Art-Festival nach London eingeladen. Im April 2010 ist brut im Rahmen von Performing the Real Gastgeber für fünf britische Live-Art-Projekte und eine Performance aus Slowenien. Auf dem Prüfstand steht die Konstruktion von Realität in Live Art und Performance. Wie verhält sich Performancekunst heute zu unserer sozialen Wirklichkeit und was ist die Erfahrung des Realen in der Performance? Ist Performance eine Intervention der Erfahrung des Realen: die Deformation, das Unrealistische, das Mögliche, die Erinnerung oder das Utopische; jedenfalls eher Fake als Fakt? Oder ist nicht vielmehr der Antagonismus aus Faktizität und Fiktionalität das eigentlich Fragwürdige, und kann es überhaupt eine Realität ohne die Dimensionen des Imaginären geben? „Realität ist wirklich insofern, als sie Menschen real unterdrückt. Sie ist unwirklich insofern, als jede Unterdrückung die Kräfte lediglich verschiebt. Sie verschwinden aus der Oberwelt, aber arbeiten im Untergrund weiter. Das Verdrängte leistet unterhalb des Real-Terrors alle Arbeit“, statuiert Alexander Kluge. Die Produktionen von Action Hero, Helen Cole, Gob Squad, Paul Granjon, Tim Etchells/Hugo Glendinning/Adrian Heathfield, Janez Janša und Stacy Makishi loten das Verhältnis von Wirklichkeit und Imagination, Präsenz und Absenz, Authentizität und Künstlichkeit, Spontaneität und Inszenierung aus und stellen Wirklichkeiten „unterhalb des Real-Terrors“ vor. Passend dazu untersucht der Theaterwissenschaftler Nick Ridout in einem Vortrag das kritische Potenzial aktueller Performances in einer Zeit, in der die ökonomische Wirklichkeit künstlerisch-revolutionäre Strategien längst annektiert hat. Darüber hinaus ist Performing the Real auch eine Auseinandersetzung mit Live Art: ein Genrebegriff, der eigentlich nur in Großbritannien aufzufinden ist und hinter dem sich eine vitale und oft überraschende Performanceszene verbirgt, die nur selten mit kontinentaleuropäischen Formaten zusammentrifft. Zum Abschluss des Themenschwerpunkts treten die queeren Partyhauptstädte London und Wien mit Duckie vs. FMqueer/London vs. Vienna gegeneinander an!
Festival für Choreografie, Performance und Party
Das diesjährige imagetanz-Festival verspricht Trips in neue Welten und unbekannte galaktische Sphären. Kris Verdonck eröffnet das Festival mit einem realen, rotierenden Monster. Danach vergrößern und kürzen Alix Eynaudi & Agata Maszkiewicz gegenseitig ihre Visionen. Auch Martina Ruhsams Arbeit, die die Obsession des Arbeitens mit Scores hinterfragt, und Générique von EVERYBODYS schlagen in die selbstreflexive Kerbe. Weitere große Themen von imagetanz sind die Erforschung zwischenmenschlicher Muster, großer Gefühle und die Einschreibung von politischen und geschlechtlichen Ideologien in den Körper. Liebe und Beziehungen, Identitäten, queere Zwischenräume und das private Glück werden dabei unter die Lupe genommen. Damit verbundene Special Effects wie Verlangen und Begehren, Traurigkeit und Romantik werden durchleuchtet. So spielt An Kalers SAVE A HORSE RIDE A COWBOY mit den verschiedenen Schichten von Drag beim Westernreiten, Alexander Gottfarb untersucht in Political Movements, PART 2 Massenbewegungen, White Horse feiert die romantische Liebe, während Magdalena Chowaniec/mariamagdalena sich in Empathy Project Vol. I voll und ganz der Empathie hingibt und Zoë Knights dem Wort Drama Queen gänzlich neue Dimensionen abgewinnt. Es bleibt nicht nur bei der Analyse der großen Gefühle, sondern wird auch praktisch: Nach Anna Jermolaewas SINGLE-PARTY sollte niemand mehr allein nach Hause gehen. Wem das nicht genügt oder wer ohnehin vergeben ist, den ruft Julius Deutschbauer frei nach Heino auf zum Feiern mit Caramba, Caracho und eine Weißwurst bis zum Abwinken und mit Open End.
Die Performances von imagetanz gehen von der Prämisse aus, dass die Kunst das Leben erfindet und nicht umgekehrt. Unter dieser Voraussetzung erscheinen die Fragen, „Wer könnten wir sein?“ und „Wie könnten wir miteinander leben?“ in neuem Licht. Es kann somit frisch und frei losdefiniert werden und neue Zeiten können anbrechen. Zumindest wird die Winterzeit mit dem CLUB BURLESQUE BRUTAL angemessen pompös zu Ende gebracht. Auch wenn François Chaignaud & Cecilia Bengolea – die heuer als Sternenpaar Castor und Pollux in den Lüften schweben – 2009 bewiesen haben, dass der Anus einen festen Platz in der zeitgenössischen Choreografie verdient, will imagetanz auch dieses Jahr nicht auf sie verzichten! Selbst der Festivaltitel wird am Ende umdefiniert: Mit dem Abschlussevent imarsch des schwedischen Kollektivs ÖFA geht das Festival seinem noch immer rätselhaften französisch-deutschen Titel auf den Grund.
Telling Time ist eine sich fortsetzende Recherche über innovative Erzählstrategien im zeitgenössischen Theater im brut-Programm.
Die dritte Ausgabe steht im Zeichen von kontinuierlicher Zusammenarbeit mit internationalen KünstlerInnen: Ivana Müller, Kate McIntosh und Nature Theater of Oklahoma zeigen wie unterschiedliche Formen des Erzählens mit theatralen Mitteln. Aus Kate McIntoshs Workshop bei Telling Time #2 ging eine Zusammenarbeit mit dem Wiener Performer Thomas Kasebacher hervor, der nun für DARK MATTER auf der Bühne steht. Als Koautor lud die Choreografin Forced Entertainments künstlerischen Kopf Tim Etchells ein, um ihre Auseinandersetzung mit den großen Fragen der Philosophie in eine Showbiz-Performance zu übertragen.
Es geht bei Telling Time um Theatertexte, die für eine spezifische Form des Erzählens verfasst werden. Um Texte, die in einem speziellen Verhältnis zum Bühnengeschehen stehen, geht es auch in Ivana Müllers neuer Arbeit Working Titles, die im brut uraufgeführt wird. Die sonst für Übersetzungen fremdsprachiger Texte verwendeten Untertitel treiben hier Geschichten voran, die durch die Performer auf der Bühne unterschiedliche Bedeutung bekommen können.
Nach ihrer Erfolgsproduktion, dem Tableau vivant While We Were Holding It Together, ist Working Titles eine konsequente Weiterentwicklung Ivana Müllers höchst charmanter und kluger Art, Geschichten zu erzählen.
Den Auftakt des Themenschwerpunkts macht die Gruppe Nature Theater of Oklahoma. Die Performance RAMBO SOLO ist, wie schon der Nature-Theater-Klassiker No Dice oder auch Romeo and Juliet, ein Kampf mit dem Erinnern und der Kunst des genauen Nacherzählens. In RAMBO SOLO rekonstruiert der Rambo-Fan und Nature-Theater-Schauspieler Zachary Oberzan die Romanvorlage für Rambo, First Blood, und den Film selbst in all ihren schwitzig-athletischen Details. Nicola Unger ist mit Phantom Story zum ersten Mal in Österreich zu sehen. Diese semidokumentarische Erzählung berichtet von der Erschütterung im Leben einer ganz gewöhnlichen Frau nach der zufälligen Begegnung mit einem international gesuchten Topterroristen. Bestechend ist, dass Unger in ihrer Geschichte weltpolitische Themen quasi nebenbei streift, während sie für ihr Erzählen eine ganz bescheidene, aber geheimnisvolle Form erfunden hat. Einen dokumentarischen Ansatz verfolgen auch die Wiener Performance-Globetrotter Michikazu Matsune/David Subal in ihrer neuen Arbeit DANEBEN. Sie spüren die Familiengeschichten von Wiener MigrantInnen auf und lassen diese in ihrer performativen Installation selbst zu Wort kommen. Installationen über das Erzählen gibt es zeitgleich mit dem Telling Time-Programm im brut auch in der Ausstellung Telling Stories in der Kunsthalle Exnergasse zu sehen.
brut begrüßt das neue Jahr trotzig. Während offenbar nur noch die Schweinegrippeimpfung gegen die Finanzkrise hilft und Apokalyptiker einen vom Spar-Tsunami verursachten Kulturkahlschlag heraufbeschwören, bekämpft brut die allgemeine Paralyse mit schierer Maßlosigkeit.
Der Themenschwerpunkt ÜBER FÜLLE zeigt, dass Opulenz, Fülle, Masse und Exzess Bestandteile unserer Kultur sind und zum Leben gehören wie das tägliche Brot. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Finanzkrise, deren Auswirkungen auf das kommende Jahr schon heute asketisch gefürchtet werden, in Teilen angeblich der Maßlosigkeit und Spiellust einiger weniger Akteure des Großkapitals geschuldet ist. Den hier versammelten KünstlerInnen geht es jedoch keineswegs darum, unkritisch dem Hedonismus zu frönen.
Nicole Beutler geht in Lost is my quiet forever dem barocken Ausdruck in der zeitgenössischen Kunst nach und verbindet in ihrer choreografischen Performance so unterschiedliche Ansätze wie Modedesign, Heavy Metal, Stepptanz und Minimal-Electronic zu einer fiktiven barocken Oper. Doris Uhlich geht in mehr als genug weiblichen Schönheitsidealen auf den Grund und macht ihren eigenen Tänzerinnenkörper, der im Feuilleton oft als „korpulent“ bezeichnet wird, zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung. Mit Walking Chakras unternimmt Oleg Soulimenko eine Reise durch die postkommunistische Kulturgeschichte anhand der Darstellung von Massenbewegungen. Milli Bitterli stellt sich in the mystery box (der Haufen) dem künstlerischen Luxusproblem, der Material- und Ideenfülle habhaft zu werden, und befragt die Selektionsmechanismen beim Produzieren. Mit dem Dandy Sebastian Horsley ist schließlich ein Fleisch gewordenes Plädoyer für den Exzess im brut zu Gast. Der Brite präsentiert seine Memoiren Dandy in der Unterwelt und gibt eine Lektion in Sachen Überfluss. Geht es nach ihm, kann man nie genug Drogen, Sex oder auch Stil haben. In zwei Vorträgen werden außerdem politische Reflexionen über den künstlerischen Diskurs zur ÜBER FÜLLE vorgestellt.
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller beobachtete schon in seinem 2002 erschienenen Essay über das Lustprinzip in der Kultur: „Ist es nicht auffällig, in welchem Maß derzeit Regierungen den Sozialstaat zerstören, das Bildungssystem auf Eliten beschränken und große Teile der
Bevölkerung an die Grenze der sogenannten ‚Neuen Armut‘ treiben können, ohne dabei auf wütende und organisierte Empörung zu stoßen? Im Gegenteil: die sogenannten ‚Einsparungen‘ sowie die forcierte Zerschlagung Schutz bietender Mechanismen werden sogar noch
freudig begrüßt.“ Die Auflösung von Gesellschaft beschreibt Boris Buden in seinem aktuellen Buch Zonen des Übergangs als ein Zeitphänomen am Ende des Postkommunismus. Die Utopie eines gesellschaftlichen Ganzen habe sich von der Sphäre des Sozialen in den Bereich der Kultur verlagert, in dem die Hoffnung auf ein besseres Leben aufrechterhalten bleibt.
Schock
Nach dem Rausch kommt der Schock! Das Freischwimmer-Festival wählte heuer dieses Reizwort als Leitmotiv. Denn mit dem Begriff wird ein inhaltliches Feld markiert, das von äußerster Boulevardtrivialität bis hin zu aktuellen und radikalen gesellschaftspolitischen Fragestellungen reicht.
Sechs junge Theaterteams aus Österreich, Deutschland und der Schweiz wurden von fünf der wichtigsten deutschsprachigen Koproduktionshäuser eingeladen, ihre künstlerischen Haltungen und eigenen Theaterbegriffe zu formulieren und sich die Frage zu stellen, was Schockzustände hervorruft und wie sie sich auswirken. Sie sind aufgerufen, sich in einer Welt zu positionieren, die deutlicher als zuvor von sich behauptet, eigentlich durch nichts mehr schockieren zu können, und sich gleichzeitig durch das Potenzial globaler Katastrophen in einem Zustand maximaler Labilität befindet. Freischwimmer 09/10 wird darüber Auskunft geben, ob und wie dieser Zwiespalt gelebt werden kann.
Wer unter Schock steht, befindet sich in einem existenziellen Ausnahmezustand. Unabhängig davon, ob es sich um ein soziales, politisches oder wirtschaftliches System, eine Gruppe, einen Staat, ein Unternehmen oder einen einzelnen menschlichen Organismus handelt: Die Diagnose „Schock“ besagt, dass grundlegende Lebens- und Organisationsfunktionen und mit ihnen Wahrnehmungs-, Handlungs-, Reaktions- und Kommunikationsfähigkeiten weitgehend außer Kraft gesetzt sind. Wer unter Schock steht, kann sich nur in seltenen Fällen selbst helfen. Zu einschneidend, zu dramatisch sind die hervorgerufenen Störungen. Dem Schockzustand folgt oft eine höchst mühsame, langwierige Rehabilitation, deren Erfolg größter Anstrengungen bedarf und in keiner Weise vorausgesetzt werden kann. Wie können die traumatischen Zustände,
die der Schock hinterlässt, bearbeitet werden? Wie können die eigene Biografie oder das politische, soziale und gesellschaftliche Umfeld in solche Prozesse eingebunden werden? Diese und andere Fragen untersuchen die ausgewählten sechs Produktionen auf die jeweils eigene Weise und mit höchst unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Mit Amanda Piña & Daniel Zimmermann/nadaproductions und den Rabtaldirndln sind heuer gleich zwei Gruppen aus Österreich bei Freischwimmer 09/10 vertreten.
Mit Religion und Revolution startete brut in den Herbst und vereinte damit zwei komplexe Begriffe in einem Themenschwerpunkt. Gefragt wird nach dem religiösen Moment in Revolutionen und umgekehrt den revolutionären Momenten, die sich in der Religion ausmachen lassen.
Doris Uhlich setzte sich in der Saison-Eröffnungsproduktion Johannen. Eine Frauenmannschaft mit der Heilsfigur und Fanatikerin Johanna von Orléans auseinander. Weiters führten im Oktober united sorry alias Frans Poelstra und Roberts Steijn in ihrer Teufelsbeschwörung How low can you go in den Untergrund, Club Real errichteten vor brut im Künstlerhaus Die Eiserne Kirche, um darin das achte Sakrament, das Sakrament der Gewalt, zu verabreichen.
Das Kollektiv um Gini Müller, Peter Kozek und Sabine Marte erweiterte mit der liturgischen Posse Transkatholische Vögel die Frage nach Religion noch einmal ins Politische, bevor die Metal-Formation Fuckhead mit Carnival of Souls in die düstere Welt des Hieronymus Bosch abtauchte. Und schließlich fand das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Revolution seinen theoretischen Ausdruck in einem Thementag mit Vorträgen, Diskussionen und musikalischen Beiträgen. Im November werden Religion und Revolution nochmals auf ihre Potenziale geprüft. Barbara Kraus beschäftigt sich in ihrer neuen Arbeit Auf Teufel, komm raus! Oder Aloisia Schinkenmaiers Fahrt in die Hölle gemeinsam mit der französischen Bühnenbildnerin Nadia Lauro mit den Energien und Möglichkeiten von Wahnsinn und den Phänomenen religiöser Besessenheit. Das Publikum erwartet ein Höllencasting auf Basis der sieben Todsünden. In einem umgekehrten Exorzismus kann mit allem Verteufelten endlich Frieden geschlossen werden.
Der Themenschwerpunkt wird von der Montrealer KünstlerInnengruppe PME-ART rund um Jacob Wren abgeschlossen. In ihrer Arbeit HOSPITALITY 3 – Individualism was a mistake stehen das Kollektiv als Grundlage jeder revolutionären und religiösen Bewegung und die kulturelle Überbewertung von Individualismus im Vordergrund. Dann kann es losgehen!
Die Wirklichkeit, die im Theater hergestellt und wahrgenommen wird, unterscheidet sich grundlegend von der Wirklichkeit, mit der man es in einer Kneipe zu tun hat, in irgendeinem öffentlichen Raum oder zu Hause. X Wohnungen ist ein Projekt, das Theater in den privaten Kontext von Wohnungen stellt – ein ortspezifisches Projekt, das neue künstlerische Fragen und Herangehensweisen für das Medium Theater formuliert: Kann Theater an neuen Spielorten einen anderen Realitätsbezug gewinnen?
X Wohnungen begibt sich nach Ausgaben in Istanbul, Berlin und São Paulo ins Wiener Stuwerviertel. Zwischen dem Praterstern und der Donau gelegen, hat es die Form eines Dreiecks. Die Eröffnung des Praters trug maßgeblich zur Entwicklung des Viertels bei. Seinen Namen erhielt das Stuwerviertel von Johann Georg Stuwer, der in dieser Gegend populäre Kunstfeuerwerke veranstaltete. Nach der fertiggestellten Donauregulierung begann die Erschließung des Geländes. Anfang des 20. Jahrhunderts war bereits ein großer Teil des Stuwerviertels bebaut, viele dieser Gründerzeithäuser stehen noch heute. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts durchziehen das Viertel Gemeindebaukomplexe verschiedenster Baustile und Baujahre. Im Stuwerviertel ist folglich eine fast 100-jährige bis heute andauernde lebendige Geschichte des Gemeindebaus zu besichtigen.
Bedingt durch die Nachbarschaft zum Vergnügungspark entstand vor über 100 Jahren eine Rotlichtszene. Die Bezirksverwaltung hat gegen die Straßenprostitution ein Einbahnsystem erdacht, das es kaum mehr zulässt, auf direktem Weg von einem Punkt im Stuwerviertel zum anderen zu gelangen. Der Stadtteil zeichnet sich auch durch einen hohen migrantischen Bevölkerungsanteil aus und weist zugleich einen überdurchschnittlich hohen Wert an WählerInnen von rechtspopulistischen Parteien auf.
Österreichische und internationale KünstlerInnen bespielen 14 Wohnungen im Stuwerviertel. Sie nehmen dabei unmittelbar Bezug auf die Räumlichkeiten und ihre BewohnerInnen. Die ZuschauerInnen bewegen sich in Zweiergruppen anhand einer Wegbeschreibung von Haus zu Haus. Die Wege zwischen den Wohnungen gehören mit zum Spiel: Die Erfahrung des urbanen Raums vermischt sich mit den theatralen Erzählungen in den privaten Räumen zu einem Gesamteindruck – die Grenzen zwischen Inszenierung und Realität verschwimmen.
„Fast jeder von uns lebt in sehr effektiv organisierten Ghettos: Man versucht, vornehmlich mit Leuten zusammenzutreffen, die im eigenen Alter sind und die die eigenen Interessen teilen; man bewegt sich geographisch zwischen bestimmten Lebensfixpunkten und versucht alles auszuklammern, was anders ist, vor allem unbekannte Orte. Ein Projekt wie X Wohnungen, bei dem es darum geht, aus ebendiesen Alltagsghettos auszubrechen, fordert die Auseinandersetzung mit ganz anderen Lebenswelten, stöbert sie auf und entlarvt im Zuge dessen fast sämtliche Vorstellungen als Vorurteile.“ Matthias Lilienthal
Ein Showcase von brut, DSCHUNGEL WIEN und Schauspielhaus Wien
Der Sommerschlussverkauf findet in diesem Jahr von 17. bis 22. Juni statt. Denn Alles muss raus! An sechs Tagen sind über 30 Produktionen zu sehen, und das zum sensationellen Sonderpreis von 4,99 Euro pro Stück. Dieser Schlussverkauf bildet nicht nur einen Abschluss der Saison 08/09, bei dem brut Wien gemeinsam mit DSCHUNGEL WIEN und Schauspielhaus Wien einige der herausragenden Produktionen der letzten beiden Jahre zeigt, sondern soll auch Anreiz für internationale Gäste, KuratorInnen, ProduzentInnen und JournalistInnen sein, diese geballte Ladung Wiener und österreichischer Produktionen, die sie in einer sehr kurzen Zeit präsentiert bekommen, hinaus in die Welt zu tragen. Denn Alles muss raus! Während die österreichische Tanz- und Performanceszene in der Choreographic Platform Austria (CPA) eine Zusammenkunft gefunden hat, die auch einer nachrückenden KünstlerInnengeneration Aufmerksamkeit weit über nationale Grenzen hinaus garantiert, existiert für Theater keine entsprechende Plattform. Dabei konnten nicht nur durch die Gründung von brut im November 2007, sondern auch durch die Theaterreform der Stadt Wien mit einschneidenden strukturellen Maßnahmen im Fördersystem neue und innovative Impulse im frei produzierten Theater gesetzt werden, die nachhaltige Wirkung zeigen. Die Zeit nach der Gründung von brut hatte eine europaweite Signalwirkung, die eine große internationale Aufmerksamkeit auf die Wiener und österreichische Szene lenkte, von der bereits einige KünstlerInnen profitieren konnten. Mit diesem Showcase, der auch als Versuchsballon und Test für ein regelmäßiges Festival zu sehen ist, wollen die drei ausrichtenden Häuser zu Saisonende mit gemeinsamer Kraft noch einmal das Interesse im In- und Ausland auf hier entstandene Produktionen lenken. Alles muss raus! bietet die letzte Chance, verpasste Highlights aus dem brut-Programm noch einmal zu sehen, und das zu unglaublichen Aktionspreisen, die das Herz eines jeden Schnäppchenjägers höherschlagen lassen.
Am besten gleich reservieren, bevor es andere tun. First come, first serve.
Links: >>DSCHUNGEL WIEN >>Schauspielhaus Wien >>brut Wien
Wiener Festwochen in brut
Die britisch-deutsche Gruppe Gob Squad eröffnet mit der Video-Performance Saving The World das Festwochen-brut. Einige Geister aus der Zukunft erkunden auf dem Schwedenplatz einen Tag lang die Gegenwart, eine Performance, die auf der Straße und im Zuschauerraum stattfindet.
Der chilenische Autor und Regisseur Guillermo Calderón schreibt richtig gute Theaterstücke, die in die Seele seines Landes greifen, zwei sind in brut zu sehen: Neva ist eine tragikomische Revolutionsfantasie, die in einem Russland spielt, das Chile meint, und Diciembre ist eine schwarze Komödie aus der lateinamerikanischen Zukunft. Der Understatementkünstler Philippe Quesne und Vivarium Studio werden in der Welt von Serge, der Spezialeffekte liebt, zu einer neuen, charmanten Theaterverweigerung verführen.
Das forum festwochen zeigt unter dem Thema „Biografie“ Arbeiten aus Berlin, Spanien, Basel/Wien, aus dem Libanon und mehrere aus Istanbul. Die meisten davon zwischen 30. Mai und 9. Juni in brut. Wie erfährt das von deutschen Eltern adoptierte koreanische Mädchen das Anderssein? Mit 30 fährt die junge Frau nach Korea, wo sie aussieht wie alle anderen, aber die Sprache nicht versteht. Rimini Protokoll stellt ihre Biografie auf die Bühne. Zwei spanische Arbeiten, eine theatralisch-installative der katalanischen Gruppe La Invenció und eine Performance der jungen Künstlerin Rosa Casado, erzählen über den schwierigen Weg nach Europa. Ein 27-Jähriger, der im Hafen von Casablanca in einen Frachtcontainer steigt, ein junger Senegalese, der von Afrika nach Barcelona emigriert, und eine Spanierin, die in Mali Urlaub macht.
Looking for a Missing Employee ist eine von Rabih Mroués bekanntesten Arbeiten, die anhand der grotesk komplizierten Suche nach einem vermissten Angestellten ein haarsträubendes Bild einer in Korruption versinkenden libanesischen Gesellschaft beschreibt. Vier Produktionen aus Istanbul befassen sich mit Leben jenseits oder am Rande der Norm. In Hässliches Menschlein zeigt die junge Regisseurin Maral Ceranoglu drei Frauen, deren Wege sich normalerweise nicht kreuzen würden: Eine Kopftuchträgerin, eine Kurdin und eine Lesbe versuchen mit Charme und Witz ihre Positionen im Alltag zu beziehen. Die deutsche Bühnenbildnerin Barbara Ehnes beschäftigt sich in ihrer Installation Istanbul, Transgelinler mit der Parallelgesellschaft der Transsexuellen in Istanbul. Ort: Ein Zelt auf dem Karlsplatz. Der Schauspieler, Reporter und politische Aktivist Memet Ali Alabora erkundet in Reporter seinen eigenen Lebenslauf. Und Der Schrei der Eurydike erzählt in einer heutigen Antigone-Adaptation von Sahika Tekand mit einem exzellenten Ensemble vom Schrecken der männlichen Macht.
Angesichts der Wirtschaftskrise wird ausgerechnet der gute alte Nationalstaat als alleiniger Retter aus dem Finanzdebakel bemüht. Dabei stellt sich die Frage, warum der Begriff Nation, der schon des Öfteren zum Relikt und Auslaufmodell der Globalisierung erklärt wurde, wieder eine Aktualisierung findet. Wurden nicht große Anstrengungen auf die komplizierte Rhetorik verwendet, nationale Identitätsangebote in supranationale Ideologien zu integrieren? Die Auseinandersetzung mit den Beiträgen der KünstlerInnen für das brut-Frühjahrsprogramm zeigt einmal mehr, dass die Anrufungen von nationalen und kulturellen Identitäten nach Bedarf konstruiert und inszeniert werden.
Anstatt ein multikulturelles Nebeneinander zu zelebrieren, in dem kulturelle Klischees zementiert werden, stellen die KünstlerInnen des Themenschwerpunkts State of the Nation Differenzierungsmöglichkeiten vor, um nationalistische Engführungen und kulturelle Prägungen, internationale Öffnungen und neoliberales Marketing, nationalchauvinistischen Europa-Skeptizismus und administrative Verwaltungsdiktatur zu unterscheiden.
Das Grazer Theater im Bahnhof blickt mit Europa! Europa!, seiner ersten großen Ensembleproduktion seit fünf Jahren, auf die Rhetorik des EU-Vertrags von Lissabon und spielt mit der Vorstellung, einen ganzen Kontinent in eine Show zu packen, wie es Andre Heller mit seinem Spektakel Afrika! Afrika! vorgeführt hat. Das Künstlerduo Gintersdorfer/Klaßen wiederum hat einen Darsteller aus Hellers Afrika! Afrika! eingeladen, den Klischees, Vorurteilen und Vermarktungsstrategien traditioneller afrikanischer Tänze in Europa und des sogenannten zeitgenössischen Tanzes in Afrika im Rahmen einer Lecture-Performance Logobi01 nachzugehen.
Der aus Russland stammende und in Wien lebende Choreograf Oleg Soulimenko und der Moskauer Künstler Andrei Andrianov vermischen in MADE IN RUSSIA ihre Biografien mit fiktiven Erzählsträngen und konfrontieren die postkommunistischen Welten von Ost und West miteinander. Der slowenische Theaterkünstler Janez Jança (vormals Emil Hrvatin) rekonstruiert in SLOVENE NATIONAL THEATRE die reale und mediale Hetze einer Roma-Familie durch die slowenische Republik. Die Gruppe gold extra aus Salzburg zeichnet mit Frontiers die europäische Grenzsicherung des Schengenabkommens in Form eines Computerspiels nach. In Kooperation mit der Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien bietet brut begleitende Gespräche und Diskussionsrunden an. Den Eröffnungsvortrag hält der Soziologe Oskar Negt.
Festival für Choreografie, Performance & Musik
brut im Künstlerhaus, brut im Konzerthaus & MAK NITE©imagetanz wird 20!
Das Festival – ursprünglich initiiert als Plattform und Heimstätte für Tanz – durchlief seit seinem Bestehen verschiedene Etappen. Die einzige Konstante war dabei wohl die Veränderung selbst. Aber auch die Offenheit für neue Arbeiten, für Uraufführungen lokaler KünstlerInnen und Einladungen an Gäste aus aller Welt. Leicht war es nicht immer: 2001, im Jahr der Gründung des Tanzquartier Wien, überlegte es sich, Harakiri zu begehen. Die kleine Nichte von ImPulsTanz wird aufgrund der Namensähnlichkeit auch immer wieder mit dem großen Onkel verwechselt. In den letzten Jahren hat imagetanz letztlich einen guten Platz in der Veranstalterlandschaft gefunden und seinen Schwerpunkt auf die Förderung der lokalen choreografischen Szene verlagert. Heute ist das Festival ein zentraler Präsentationsort für eine junge Generation.
2009 ist dieser Nachwuchs sehr sendungsbewusst und kommunikationsfreudig. Mit siebzehn verschiedenen Veranstaltungen steht das Festival in voller Blüte. Schwerpunktmäßig wird in einigen Produktionen die lange Beziehungsgeschichte von Tanz und Musik auf ein Neues untersucht. Als Aufgabenstellung nehmen sich einige KünstlerInnen Dinge ins Extrem zu treiben und das Leben am Limit ganz auszuschöpfen. Einmal mehr zeigt sich bei imagetanz, dass viele aus Polen stammende ChoreografInnen in Wien ihre künstlerische Heimat gefunden haben. Polska,Polska, Polska!
Gemeinsam verkosten wir das Leben auch in der schönsten Nacht des Jahres, der Ballnacht anlässlich des 20. Geburtstags von imagetanz im MAK Wien.
Performing what words do (and what they don’t)
Performing what words do (and what they don’t) hat die in brut gastierende Performerin Kate McIntosh ihren im Rahmen von Telling Time #2 stattfindenden Workshop genannt und trifft mit dem Titel den Nagel auf den Kopf: Die Produktionen, die brut im Rahmen des Themenschwerpunkts zeigt, fragen alle nach den Möglichkeiten, im Theater Geschichten zu erzählen. Und das ist genauso grundlegend gemeint, wie es klingt. Die bürgerlichen Feuilletons postulieren neuerdings nur allzu gerne das Ende der Selbstbespiegelung des postdramatischen Theaters, das dann meist als eine modische Marotte abgetan wird und rufen das gute alte Erzähltheater herbei. Entscheidend ist aber nicht die Frage, ob, sondern wie im Theater Geschichten erzählt werden können. Auch in den klassischen Repertoirebetrieben treten derzeit jene TheaterkünstlerInnen mit der größten Überzeugungskraft auf, die zugleich als AutorInnen ihrer Inszenierungen fungieren. Sie produzieren Texte, die für ihre ganz bestimmte Bühnensprache gedacht sind und nur in diesem Rahmen authentisch wirken. Sie sind angetrieben von der Überzeugung, dass ein Text auf der Bühne nicht auf die Bedeutung seiner Wörter reduziert werden kann, sondern immer auch eine Form der Darstellung benötigt, die ihn hervorbringt. Erzählen an sich ist eine archaische Konstante: vom großen Ilias-Erzähler Homer über die Märchen am Kinderbett bis zur Gesprächstherapie beim Psychologen. Der erste sinnstiftende Bewältigungsschritt menschlicher Erfahrung ist, diese erzählbar zu machen.
Telling Time #2 versammelt internationale ExpertInnen des Erzählens auf der Theaterbühne. Kate McIntosh, Jacob Wren & Pieter De Buysser, Richard Maxwell & The New York City Players sowie die Wiener Kompanie toxic dreams erzählen in ihren Stücken auf ihre jeweils eigene Weise von Hoffnung, Gnade, Leidenschaft, Liebe und vom Scheitern. Sie stellen performative Ansätze vor, wie man von grundlegenden Erfahrungen im zeitgenössischen Theater erzählen kann. Neben Kate McIntosh bietet auch der Kanadier Jacob Wren einen Workshop zur Textproduktion im zeitgenössischen Theater an.
Zu Gast in brut
Eine Woche lang, diskutieren und performen AutorInnen von Independent Verlagen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz jeden Abend in brut im Konzerthaus. Im Anschluss an die Gespräche und Lesungen lassen Poeten ihre Lieblingsplatten in der Bar brut deluxe kreisen.
Musik ist Trumpf
Nur noch knapp ein Dutzend klassische Werke werden heute unter dem Kanon der klassischen Operette geführt. Höchste Zeit, dieses vergessene Genre wiederzubeleben und den Begriff Operette aus all zu engen Fesseln zu befreien. Einst war Operette viel mehr – zu ihr zählten sämtliche Opernwerke, die nicht in französischer Hofsprache verfasst waren, jene, die nicht ins tragische Fach fielen oder nur Einakter waren: Sie wurden „Operette“ und damit zur „geringeren“ Oper. In gewissem Maße spiegelte die Unterscheidung zwischen Oper und Operette auch die Konkurrenz zwischen den subventionierten Hoftheatern und den Privattheatern und „freien“ Wanderbühnen. Ein Grund mehr in brut den Operettenwinter auszurufen. Denn dieser Winter ist kein Operettensommer. Operette heute könnte vielmehr der Versuch sein, ein neues Musiktheater zu befragen und damit den eng begrenzten Operettenbegriff wieder zu erweitern – vom Singspiel über Minioper, Musical, Burleske zu Revue – Musiktheater in seiner vielfältigsten Form.
Auch toxic dreams nähern sich in Pink Vanja einer Verschmelzung von klassischem Drama und Musik an und reduzieren Anton Tschechows „Onkel Vanja“ auf seine emotionale Essenz, wobei versuchsweise das gesprochene zum gesungenen Wort verschoben wird.
Oliver Sturm nimmt die literarische Vorlage des Dramatikers Werner Fritsch, der der unergründlichen Pop-Ikone in seinem Monolog NICO - SPHINX AUS EIS ein Denkmal setzt und inszeniert kaleidoskopartig eine der widersprüchlichsten Künstlerinnen-Biografien der 60er Jahre mit der österreichischen Schauspielerin Birgit Doll und der Nachwuchsmusikerin Anja Plaschg alias Soap & Skin, die als Komponistin und Performerin mitwirkt und die junge Nico verkörpert.
Im Januar versuchen sich dann Thomas Desi und Cezary Tomaszewski an „dem“ Klassiker des Genres: „Die lustige Witwe“. Während Desi nur die Auf- und Abgänge der Operette inszenieren wird, werden bei Tomaszewski vier polnische Putzfrauen zu lustigen Witwen. Das Kollektiv performancereviewcommittee wird schließlich mit Der Nacktmull, einer Operetten-Uraufführung, den Abschluss dieses Themenschwerpunkts bilden.
Modelle der Moderne
Die Reihe REPRODUKTIONEN ist eine Spurensuche, die aus den Bruchstücken avantgardistischer Theatermodelle hinterlassene Spuren sichtbar macht und nach neuen Formen sucht. Der Philosoph Platon stellte sich die Wahrnehmung (ein Geschenk der Mnemosyne) als Abdrücke in der wächsernen Knetmasse der Seele vor. Eine Spur ist nur durch das Verknüpfen vieler einzelner Abdrücke als Zusammenhang erkennbar. Spuren lesen ist Erinnerungsarbeit als schöpferischer Prozess.
Vor allem im Tanz und in der Performancekunst war jüngst viel die Rede von Re-enactments und Rekonstruktionen wegweisender Positionen aus vergangenen Jahren. Im Theater wird gemeinhin der Exkurs auf Vergangenes mit der Auswahl von Dramentexten erledigt. Die Theaterspielpläne sind voll von Re-enactments und Rekonstruktionen aus 2500 Jahren Dramengeschichte, angetrieben von der Frage, was kann uns dieser oder jener Stoff heute erzählen.
Mit REPRODUKTIONEN stellen wir diese Frage nicht ausgehend von Theatertexten, sondern von Bühnenkonzepten. Im Oktober und November zeigt brut insgesamt fünf neue Produktionen, die mit dem Forschungsinteresse interdisziplinärer BühnenkünstlerInnen nach der Innovationskraft von Ideen und künstlerischen Konzepten aus der klassischen Moderne fragen. Ob diese ein unvollendetes Projekt ist oder ob die Postmoderne schon der Vergangenheit angehört soll hier nicht entschieden werden. Es geht um konkrete Vorschläge, Theater als Ort der Wahrnehmung und der Verhandlung öffentlicher Belange neu zu denken. Keines der Projekte erhebt für sich den Anspruch, eine originalgetreue Rekonstruktion der jeweiligen Vorlage zu produzieren. Vielmehr sind alle REPRODUKTIONEN Vorschläge für ein Theater unserer Gegen¬wart in Wien unter Zuhilfenahme historischer Vorlagen.
Der Musiktheatermacher Thomas Desi widmet sich dem Film „Orlacs Hände“ (Wien 1924) und kristallisiert mit SängerInnen und SchauspielerInnen in OPERATION ORLAC den Sprachgestus des expressionistischen Stummfilms heraus. Anat Stainberg entdeckt in THE LOOP die Raumbühnen-Modelle der Wiener Architekten Oskar Strnad und Friedrich Kiesler, die ebenfalls in den 1920er Jahren mit der Rundbühne das Theater revolutionieren wollten. Und der Text „Der Lohndrücker“ ist Heiner Müllers Versuch in der Aufbauzeit des DDR Staatssozialismus Brechts Idee des Lehrstücks aus den 1920er Jahren zu reaktivieren. Die Regisseurin Kerstin Lenhart wendet in Der Lohndrücker das Material auf den Neoliberalismus unserer globalisierten Welt an. Im November wird die Reihe fortgesetzt: Martin Nachbar tritt in Urheben Aufheben das Erbe von Dore Hoyers Tanzzyklus „Affectos Humanos“ aus den 1930er Jahren an. Und toxic dreams geht mit Vanja2 Anton Tschechows Realismuskonzept auf den Grund. Erinnerung jedenfalls ist Verhandlungssache.
Geister, Tote, Wiedergänger
Sie sind weder lebendig noch tot, weder anwesend noch abwesend. Die erste Frage müsste deshalb lauten: Existieren sie wirklich? Natürlich existieren sie, auch wenn man das mit Sicherheit nur von ihren am stärksten abstrahierten Formen sagen kann, als Wesen und Ideen, als Worte, als Figuren in Erzählungen und als Allegorien und Metaphern – als Vermittlungen. Das Wort „Geist“ besitzt eine fast erschreckende Vielzahl an Synonymen, und deutet auf die unterschiedlichen medialen Vermittlungen, bei seiner gleichzeitigen Entmaterialisierung hin, die jeweils unterschiedliche Eigenschaften beschreibt: Gespenst, Poltergeist, Phantom, Dämon, Lemur, Spuk, Schatten. In ihrer historischen Interpretation stellt sich die Künstlerin Simone Decker unter dem Begriff Geist ein Gespenst vor, einen Wiedergänger aus dem Reich der Toten, vielleicht sogar eher die verdrängte Wiederkehr eines noch lebendigen Teils dieser Person, das möglicherweise mit einer bestimmten Absicht an einem bestimmten Ort auftaucht. So beschwört eine Gruppe Wiener KünstlerInnen gleich zu Beginn der Spielzeit mit der im öffentlichen Raum beginnenden Aktion Maria Theresia entdeckt die zeitgenössische Kunst den Geist Maria Theresias, in der Hoffnung, sie möge sich endlich der zeitgenössischen Kunst zuwenden. Und die Hamburger Performance Gruppe Showcase Beat le Mot, unterstützt von Angela Guerreiro, mit Vote Zombie Andy Beuyz in einer riesigen Installation nach einem geisterhaften Hall von Kunst in ihrer anwesenden Abwesenheit. Anschließend destilliert die Festivalentdeckung der vergangenen Spielzeit – Nature Theatre of Oklahoma aus New York mit No Dice– aus 100 Stunden aufgezeichneten Telefongesprächen eine Marathonaufführung von teuflischer Qualität und spielt dabei die dialektische Allianz von Tod und Speichermedium voll aus. In Spectacular von Forced Entertainment wird ganz konkret der Tod und das Tot stellen bzw. Sterben auf der Bühne verhandelt. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das am seidenen Faden hängt und das Publikum in eine schräge Zwischenwelt entführt.
Zum Abschluss des Themenschwerpunkts wird brut vom 17. bis 19. Oktober ein Wochenende lang verschiedene Beiträge aus Performance, Film, Lecture, Musik und Installation zum Thema zeigen und wortwörtlich zum Kingdom of Darkness werden.
Eine Spiel- und Vorlesungsreihe
Parallel zur EURO 2008 kuratiert brut Wien in Kooperation mit dem Tanzquartier Wien im Rahmen der Factory Season eine performative Reihe von gemeinschaftlichen Spielen, die sich mit der Ambivalenz von Spielregeln und Spielbedingungen auseinandersetzt. Die hier entwickelten Projekte insistieren auf der brechenden statt berechnenden und kalkulierbaren Praxis der Gesellschaftsspiele, auf dem Wechsel der Darstellungsebenen und der spielerischen Virtualisierungskraft. Die Spielregeln werden immer wieder ausgestellt und zugleich ausgesetzt, der Mechanismus bestehender Spiele wird dekonstruiert, um gesellschaftliche Ordnungen subversiv zu hinterfragen und als Versuchsanordnungen zu exponieren.
KünstlerInnen eignen sich die Strategien des Gesellschaftsspiels an und entwickeln Formate, in denen es anstelle von DarstellerInnen und ZuschauerInnen nur noch SpielerInnen gibt – und in dem einen oder anderen Fall vielleicht noch GewinnerInnen und VerliererInnen. Unter dem verspielten Titel Dies ist kein Spiel können also – in aller Potentialität, im Modus der Unterbrechung, des Paradoxen, der ausdrücklichen Fiktion – alle gewinnen.
Parallel zu der Spielereihe findet eine Ringvorlesung statt in der Fragen nach Spieltheorien in zeitgenössischer Kunst und Ästhetik beleuchtet werden. Diese Lehrveranstaltung ist eine Kooperation zwischen dem TFM Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft und der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften der Universität Wien und dem Tanzquartier Wien.
Wiener Festwochen in brut
Die Festwochen zeigen in brut eine Reihe performativer und semidokumentarischer Lebensbefunde
in unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen an verschiedenen Orten der Welt. In Zeiten großer Verunsicherung muss man rücksichtslos den Erfahrungsbestand sichten und Erfahrungen austauschen. Die Künstlerinnen und Künstler Gregg Whelan und Gary Winters, Ivana Müller, Christiane Jatahy und Projeto Morrinho, Amir Reza Koohestani, Rabih Mroué, Toshiki Okada sowie Barbara Weber gehören mehr oder weniger der gleichen jungen Generation an. Aus welchem Grund zählt sich ein heute 30-jähriger Japaner zu einer verlorenen Generation und aus welchen anderen Gründen sagen ein junger Mann aus Beirut oder eine Gruppe mittelständiger junger Menschen aus Rio de Janeiro das auch. Alle diese KünstlerInnen arbeiten nicht mit literarischen Vorlagen, sondern mit dem Material ihrer oder anderer Biografien. Sie stellen keine Thesen auf. Sie wollen nichts beweisen. Sie schürfen Unterschiedliches auf. Sie haben sich von der Form des repräsentierenden Schauspiels entfernt und für ihre Lebensbefunde neue Formen und Formate gesucht, die analytisch oder erzählend reflektierend, körperlich und bildnerisch sind.
Lone Twin Theatre inszenieren in ihrer neuen Arbeit DANIEL HIT BY A TRAIN 53 wahre Geschichten von Menschen, die allesamt bei dem Versuch, das Leben einer anderen Person zu retten, umkommen. Das brasilianische Doppelprojekt Crianças Cariocas – Kinder Rios beleuchtet die zwischen Morro (Favela-Hügel) und Asfalto (Strandpromenade) zweigeteilte Stadt Rio de Janeiro und ihre zerrissenen BewohnerInnen. Quartet: A Journey To North stützt sich auf Berichte tatsächlicher Mordfälle im Iran. Inspiriert von den Bildern der Filmemacherin Mahin Sadri reist Amir Reza Koohestani in ein nicht zu betretendes Land: Das Innere des Menschen. Rabih Mroué erzählt in How Nancy wished that everything was an April Fool’s joke gemeinsam mit seinen PerformerInnen immer wieder neue Geschichten vom Töten und Sterben im libanesischen Bürgerkrieg. Freetime von Toshiki Okada porträtiert die Tagträume, Freizeiten und Fluchtzeiten einiger junger japanischer Menschen in einer extrem kontrollierten Gesellschaft. Ivana Müller konfrontiert in While We Were Holding It Together die ZuschauerInnen mit einem Tableau Vivant, einem lebendigen Bild aus fünf Personen. Barbara Weber liefert mit Die Lears, basierend auf einer literarischen Vorlage, einen Erfahrungsbericht der heutigen westeuropäischen Generation. Diese Reihe internationaler Produktionen bietet die Möglichkeit, dem Theater von morgen und übermorgen zu begegnen.
Am 1. Juni diskutieren Johan Simons, Joachim Lux, Jetse Batelaan, Thomas Frank und Marijke Hoogenboom unter dem Titel Kann Holland uns helfen? über die niederländischen Aufführungen der Wiener Festwochen.
Themenschwerpunkt Rausch.
Freischwimmer– Plattform für junges Theater 2008
Rausch – ein perfekt paradoxer Zustand. Wann immer Exzess, Orgie und Obsession zum Ziel verschwenderischer Verausgabung werden, drohen Trauma, Sucht und Kollaps. Während man hier die Lust an der Erlösung feiert, wächst dort die Furcht um Politisierung, Instrumentalisierung und Manipulation. Mit der ganzen Kraft der Selbstvergessenheit stemmt sich der Rausch gegen die aufgeklärte Gegenwart. Die wiederum fürchtet um ihre Effizienz und Logik und hofft, den Rausch unter Kontrolle zu halten. Für Freischwimmer 08 wird Rausch zur weit gefassten, thematischen Landmarke. Die sechs ausgewählten Produktionen der jungen Teams aus Deutschland, Österreich und der Schweiz betreiben im Selbstversuch aktuelle Grundlagenforschung und suchen dabei in, zwischen und jenseits der reglementierten Zonen nach Praktiken mit bemerkenswerten Wechselwirkungen und Folgen. Hier öffnet sich das Freischwimmer-Leitmotiv gegenüber den Gründungsmythen des Theaters und der verschütteten dionysischen Grundlage der europäischen Kultur und sucht nach spezifischen Erscheinungsformen jenes Hintergrundrauschens, das die Orte des Theaters bis heute durchdringt.
Somit ist die vierte Ausgabe des Freischwimmer-Festivals eine Einladung an junge Theaterkünstler, ausgehend vom Begriff Rausch und seinen vielfältigen theatralen Verankerungen einen eigenen Theaterbegriff zu entwickeln. Das Rahmenprogramm des Festivals beschäftigt sich in unterschiedlichen Weisen mit Rauschphänomenen: Brigitte Marschall fragt in ihrem Vortrag nach psychedelischen Environments und der Ästhetik der Droge, der Salon fauxpas brutal setzt während des Freischwimmer-Festivals ebenfalls dem Thema gemäß auf den rauschhaften Fauxpas und eine lange FilmRauschNacht richtet ihren Blick auf die ekstatischen Momente dieses Mediums. Zu guter Letzt zeigen wir im Rahmen des Festivals eine weitere Nachwuchsproduktion aus Wien. blackout ist ein Spiel mit Erinnerung und Verlust.
Was alle Produktionen eint: sie lassen auf bewusstseinserweiternde Wirkungen hoffen. Denn auch wenn der Rausch an der esellschaftlichen Oberfläche fast ausschließlich geächtet wird, so steht er doch am Anfang dessen, was unsere Gesellschaft Kultur zu nennen gelernt hat. Das macht die vierte Ausgabe des Freischwimmer-Festivals zu einer Einladung, den lustvollen Erkundungen hinein in labile Welten zwischen Kult und Moral, Ordnung und Extase zu folgen.
Freischwimmer - Plattform für junges Theater 2008 ist ein Gemeinschaftsprojekt von Sophiensaele Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf, brut Wien und Theaterhaus Gessnerallee Zürich.
Der Festival-Pass (38,-/20,- ermäßigt) gilt für alle Veranstaltungen des Freischwimmer-Festivals und ist and der brut Abendkassa erhältlich.
Festival für Choreografie, Performance und Party
imagetanz zeigt auch dieses Jahr eine Reihe von jungen ChoreografInnen, PerformerInnen und TänzerInnen. Die österreichische ChoreografInnenszene ist ein Wunderkindernest. Auffällig viele Talente finden sich hier. imagetanz entdeckt Neues und führt Begonnenes für sein Stammpublikum weiter. Der Fortbestand von imagetanz im brut-Programm lädt zum Überdenken ein. Dabei nehmen wir imagetanz bei seinem Namen und fragen nach dem Bild, das in ihm steckt: Mehrere bildende KünstlerInnen präsentieren Videoarbeiten oder arbeiten mit ChoreografInnen zusammen, eine Verflechtung derKunstformen findet statt. Das Festival schafft interdisziplinäre Berührungspunkte. Im imagetanz-Programm 2008 finden sich zwei Themenstränge immer wieder: Gemeinschaftliches zu unterwandern und es neu wieder zu vereinen. Mit demselben Maß Ernsthaftigkeit und Vergnügen wird 2008 TURBO wieder in Betrieb genommen. „TURBO – Plattform junger Tanz in Wien“ ist eine veranstalterübergreifende Initiative zur Förderung des choreografischen Nachwuchses. Beteiligt sind auf Institutionsseite: ImPulsTanz, Tanzquartier Wien und imagetanz in brut. TURBO nimmt in den verschiedenen Orten verschiedene Formate an. Die TURBO-KünstlerInnen, die 2008 bei imagetanz auftreten, haben im Dezember 2007 eine einwöchige Residency zum Erarbeiten und Entwickeln ihrer Projekte absolviert.
Während imagetanz ist die Plattform Expedition in Wien zu Gast. Ziel von Expedition ist der künstlerische Austausch über den Zeitraum von einem Jahr hinweg. Gearbeitet wird in Amsterdam, Wien und Paris. Basierend auf der künstlerischen Praxis der TeilnehmerInnen wird von den drei Veranstaltern Gasthuis Amsterdam, brut Wien und Les Laboratoires D‘Aubervilliers gemeinsam ein Programm gestaltet, das vom 17. bis 30. März in Wien in die zweite Runde geht.
Die Produktionen, die brut im Rahmen von Telling Time zeigt, beschäftigen sich mit den Möglichkeiten des Erzählens auf der Bühne: In einer Doppelpremiere von Milli Bitterli und Barbara Kraus geht es einmal um das retrospektive Erzählen einer Tänzerbiografie aus der subjektiven Sicht der Choreografin Milli Bitterli. Barbara Kraus hingegen setzt sich in ihrer „Lieblingsperformance“ dem Hier und Jetzt der Aufführungssituation aus und bezieht den Stoff für ihre Erzählung aus dem Moment der Aufführung selbst.
Das Erzählen im Theater ist immer Vergegenwärtigung von Erfahrung. Das Besondere der Vergegenwärtigung besteht darin, alle Zeitdimensionen durchkreuzen zu können. Erlebte Erfahrungen aus der Vergangenheit, irreale Erfahrungen aus dem Bereich der Wünsche und Träume und selbst vorphantasierte Erfahrungen, die in der Zukunft erst noch zu machen sind, können ineinander verschränkt werden und beanspruchen auf der Bühne eine eigene Gegenwart. Die kanadische Regisseurin Nadia Ross der Gruppe STO Union geht der Frage nach, was im Leben eigentlich erzählenswert ist: In 7 important things rekonstruiert der kanadische Aktivist und Kulturrevolutionär Georg Acheson sein Leben und erzählt vom Scheitern all seiner persönlichen Utopien. Während sein Leben am Publikum vorbeizieht, drängt sich die Frage nach den verbleibenden Handlungsmöglichkeiten auf. Die Möglichkeit kohärente Geschichten zu erzählen ist brüchig geworden.
Ein Grund hierfür liegt in der veränderten Zeiterfahrung: Zeiterleben ist von Diskontinuitäten geprägt. Lebenserfahrungen aber, die nicht als sinnvoller Zusammenhang begriffen werden können, verursachen Angst. Mit diesem Thema setzt sich das Grazer Theater im Bahnhof in ihrem neuesten Projekt Alles was der Fall ist auseinander. Die Produktion entsteht in Zusammenarbeit mit Robin Arthur, Ensemblemitglied von Forced Entertainment, den Weltmeistern des Storytellings.
Eingeleitet wird der Themenschwerpunkt mit einem Vortrag des Filmemachers Harun Farocki über die Strategien des dokumentarischen Erzählens im Spannungsfeld zwischen Faktizität und Fiktionalität. Die „Schwarzmarkt“-Kuratorin Hannah Hurtzig und der Medienwissenschaftler Christian Schulte gehen in einem Gespräch dem Wesen des Erzählens auf den Grund: Hunger nach Sinn.
Stellungswechsel in Feminismus, Performance und Film
Im Kontext feministischer Kunst, Theorie und Politik haben Verratsbezichtigungen eine spezifische Geschichte und Funktion. Sie produzieren eine radikal vereinfachende, geradezu trivialisierende Ordnung des entweder/oder, für oder gegen, die zwar stark emotionalisiert, aber Ambivalenz, Uneindeutigkeit, Vielschichtigkeit – kurz: queer – radikal verunmöglicht. Zudem wird „Verrat“ häufig über jene aufgespannt, die den in subkulturellen Kontexten herrschenden Überzeugungen mit dissidenten, unbequemen, kritischen, randständigen oder einfach nur neuen Positionen entgegentreten.
Das Projekt will die Dichotomisierung des Verrats als Aufhänger nehmen, um von der Lust ausgehend ein Feld des Umgangs mit dieser Zweiteilung aufzumachen. Lust am Verrat bezieht sich affirmativ vor allem auf jene Positionen, die in den Sex-Wars der 1980er Jahre und den Auseinandersetzungen um queer theory versus feministischer Identitätspolitik der 1990er als VerräterInnen bezeichnent wurden: jene Zeiten also, in denen „Lipstick-Lesbe“ als Schimpfwort aufkam, und S/M, PorNo und Transgender-Debatten die Lager entzweite. Aber ist es wirklich so, dass wir jetzt, wie manche behaupten, in einer Gegenwart angekommen sind, in der die unterschiedlichsten Positionen im weiten Feld von Gender und Sex unaufgeregt, gleichgültig, von nichts zu provozieren, nebeneinander existieren?
Böse Zungen behaupten, der Film habe dem Theater längst den Rang abgelaufen. Tatsächlich hat vermutlich kein anderes Medium das Theater so sehr herausgefordert wie das viel flexiblere, perspektivenreichere Medium Film.
Landauf landab spielen Theaterhäuser Filmstoffe nach, in der Hoffnung mit dem Griff zu den populären Sujets die Reihen zu füllen. Schade eigentlich – denn wenn man sich die Frage stellt, wie die Illusionsmaschine Kino unsere Wahrnehmung beeinflusst, und wie gerne man sich als ZuschauerIn emotional überrumpeln lässt, kann die alte Mutter Theater noch eine Menge mehr zeigen:
Wenn sich toxic dreams dem urbanen Urvieh des Kinos – King Kong – annimmt, dann eben nicht, um den Film noch einmal zu erzählen: Kongs, Blondes,Tall Buildings setzt sich mit dem Wirklichkeitsgehalt des Mythen umsponnenen Riesenaffens auseinander. Ein gefakter Dokumentarfilm über Kongs Leben verrät mehr über sein Wirken in der Wirklichkeit als die pure Hingabe an den Plot.
Der bulgarische Videokünstler Krassimir Terziev nimmt sich der englischen Untertitelung der drei großen King-Kong-Produktionen von 1933, 1973 und 2005 an und zeigt in einer Parallelmontage sowohl die verschiedenen Ideologien der Bearbeitungen, als auch die veränderten Rhythmen der Filmerzählung.
Das Autoritätsverhältnis der Bilder in der Realbeziehung von Bühnendarsteller und filmischem Konterpart thematisiert das Dresdner Ensemble norton.commander.productions. unter Zuhilfenahme einer Verfilmung von Heinrich Manns Roman „Der Untertan“.
Und die Daumenkinos Volker Gerlings entfalten durch ihre manuelle Wiederholbarkeit und den Umstand, dass dadurch die Leerstellen zwischen den Bildern spürbar bleiben eine ungeahnte Kraft und Poesie.
Roböxotica ist ein jährlich stattfindendes Festival für Cocktail-Robotik,bei dem WissenschaftlerInnen, ForscherInnen, Computerfreaks und KünstlerInnen aus aller Welt Cocktail-Roboter bauen und über technologische Innovationen, Futurologie und Science Fiction diskutieren. Dem Vernehmen nach sollen bereits annehmbare Cocktails von vollautomatischen Barkeepern gerührt und geschüttelt worden sein…
Das Festival, das seit 1999 gemeinsam von den Wiener KünstlerInnengruppen Shifz, monochrom und dem Bureau für Philosophie veranstaltet wird, ist auch ein ironischer Versuch, den Triumph der Technologie zu kritisieren und technologische Hypes zu dekonstruieren. Und angesichts ganz seriös geführter euphorischer Debatten um die Entwicklung von Babysitter-Robotern in privaten Haushalten oder Patrouille-Robotern an der koreanischen Grenze ist das auch nötig.
Die Ausstellungen und Konferenzen der Roböxotica finden wie gewohnt im Museumsquartier statt. brut schließt sich dem Festival an und bereichert das Programm um einige performative Robotikbeiträge im Abendprogramm:
Die Salzburger Gruppe gold extra gibt mit acht ferngesteuerten Robotern Shakespeares Hamlet zum Besten. Der in Wales lebende Franzose Paul Granjon erläutert in seiner äußerst unterhaltsamen Lecture Performance Constructions and Reflections of a button pusher das schwierige Verhältnis zwischen Mensch und Maschine anhand einiger Einsichten und Überlegungen zum Knöpfedrücken. Und monochrom lädt anlässlich der Roböxotica zur Taugshow #15 ins brut im Konzerthaus ein. www.roboexotica.org